Feilschen um die Henkersmahlzeit

Kommentar Ein letzter Kampf der Nürnberger AEG-Beschäftigten

Nach 80 Jahren kommt das Aus: 2007 wird das Nürnberger AEG-Werk geschlossen und die komplette Belegschaft "freigesetzt". 1.750 Menschen verlieren ihre Lebensgrundlage. Die AEG, einst ein führender Weltkonzern, ist ohnehin nur noch ein leerer Firmenmantel und längst von der Globalisierung geschluckt. Die Entscheidung hat das Europa-Management des transnationalen Konzerns Electrolux mit Sitz in Schweden gefällt; die Produktion von Wasch- und Spülmaschinen wird nach Polen und Italien verlagert. Das restliche AEG-Management wurde gar nicht erst gefragt. "Brüssel hat sich eingemischt", mutmaßt der lokale IG-Metall-Bevollmächtigte Jürgen Wechsler. Hilflos bleibt sein Verweis, das Werk habe doch schwarze Zahlen geschrieben. Doch darauf kommt es bei der Zerlegung transnationaler Produktionsmodule längst nicht mehr an; entscheidend sind die Differenzgewinne von Finanztiteln auf dem globalen "Unternehmensmarkt".

Für eine weitere Kernbelegschaft ist damit eine Zeit der Verzweiflung angebrochen. Der Krankenstand des Werkes in Nürnberg ist auf mehr als 20 Prozent gestiegen. Ein bis dahin gesunder Kollege von 40 Jahren, der sich "zu sehr aufgeregt" hatte, starb in der vergangenen Woche durch Herzinfarkt, wie ein Betriebsratsmitglied mitteilte. Er hinterlässt eine Frau und zwei kleine Töchter. Moralische Anklagen verpuffen freilich wirkungslos. Aber nach einer befristeten Arbeitsniederlegung am 13. Januar steht nun - nach der Urabstimmung - möglicherweise ein unbefristeter Streik ins Haus. Die Werksschließung ist damit nicht mehr zu verhindern, es geht nur noch um die Henkersmahlzeit. Die IG Metall strebt einen Sozialtarifvertrag an; gefordert werden hohe Abfindungen, eine Beschäftigungsgesellschaft bis 2011 und ein finanzieller Ausgleich bis zur Rente für all jene Beschäftigten, die älter als 53 Jahre sind.

Nach ähnlichen Konflikten bei Infinion, Otis und Heidelberger Druck könnte die AEG zum Präzedenzfall werden: "Wer schließt, der zahlt", so ein AEG-Beschäftigter. Obwohl ein Electrolux-Sprecher die Forderungen als "utopisch" bezeichnet, stehen die Chancen nicht unbedingt schlecht, denn ein Streik würde die transnationale Wertschöpfungskette unterbrechen und zu Lieferengpässen bei Geschirrspülern und vorgefertigten Teilen in Polen führen.

Insofern könnte ein Streik bei AEG, auch wenn er nur zu Teilerfolgen führt, Schule machen und einen neuen Typus von Stillegungs-Konflikten kreieren. Ein ähnlicher Streit über Produktionsverlagerungen zeichnet sich derzeit beim Autozulieferer Continental in Hannover ab. Damit lassen sich Massenentlassungen gewiss nicht stoppen, aber durch Verteuerung vielleicht bremsen. Gegenwehr ist im Augenblick nur aus der Defensive möglich. Daher setzt eine Verallgemeinerung flexibler Widerstandsformen, die sich nicht in heroischer Aussichtslosigkeit erschöpfen, eine strategische Umorientierung voraus. Das heißt, für die Gewerkschaften stellen sich bei den Stilllegungs-Konflikten einmal mehr zwei Fragen: Wie steht es um transnationale Kampfmaßnahmen (schließlich kann es jede Belegschaft in jedem Land treffen)? Sollte mit der nationalen Krisenverwaltung durch den Staat nicht längst gebrochen werden?

Außerdem wird ohne Synergieeffekte mit anderen sozialen Konflikten wenig gehen. Aktuelle Beispiele: Der Streik von 50.000 Hafenarbeitern gegen die neue EU-Richtlinie für den freien Marktzugang bei Hafendiensten, der Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst der Länder oder - auf einer ganz anderen Ebene - der Kampf gegen Studiengebühren. Erst ein Blick über den Tellerrand des partikularen Interesses hinaus und ein Verbund von Konflikten könnte für eine spürbare soziale Gegenmacht sorgen. Dazu gehört auch der Kampf um die Transfereinkommen, von denen die Nürnberger AEG-Mitarbeiter bald abhängig sein werden. Eine solche Perspektive wäre jedenfalls etwas anderes als der schwache Versuch, bloß die Reste aus den Fleischtöpfen der untergehenden Deutschland-AG herauskratzen zu wollen.

In der Ferne stellt sich die Frage nach einer neuen Kritik der an Grenzen stoßenden kapitalistischen Verwertungslogik und ihres obsolet gewordenen abstrakten Arbeitsethos, nach einer Debatte um eine Zukunft jenseits des alten staatssozialistischen Paradigmas. Ein schwacher - oder auch gar kein Trost für die AEG-Beschäftigten. Aber irgendwann müssen die niederschmetternden Erfahrungen einmal in den Köpfen offensiv verarbeitet werden, um größere Konflikte zu riskieren als die um eine angemessene soziale Kompensation bei Betriebsstilllegungen.



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Geschrieben von

Robert Kurz

Publizist und Journalist

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