Es kann eigentlich keinen Zweifel daran geben: Das, was gerade in Nordafrika geschieht, ist eine Abfolge an Revolutionen. Erst die „Jasmin-Revolution“ in Tunesien. Jetzt die „Revolution am Nil“. Aber es gibt auch Widerworte: Ist es wirklich eine Revolution, nur weil Demonstranten ihre Regierung ins Wanken bringen? Klar, das kann zur Demokratie führen, aber vielleicht auch nur zum Austausch der Eliten. Zum Ersatz der alten Autokraten-Partei durch eine neue Gangsterbande. Und das wäre wohl doch keine Revolution.
Aber selbst wenn es so käme: Ist eine Revolution, die an ihren Zielen scheitert, keine Revolution mehr? Sind Revolutionen, die nicht glücken, deshalb keine Revolutionen und niemals, an keinem Punkt ihrer Entwicklung, welche gewesen? Nun, das wäre doch ein etwas simples Kategoriensystem.
Aber die Dinge sind noch vertrackter. Da gibt es ja in Theorie, Politaktivismus und Publizistik die schneidigen Anhänger der Revolution, die scharfen Fürsprecher des Radikalismus. Nicht selten ist für diese das Radikale eine Catch-Phrase, eine Art Marketingstrategie zur Selbststilisierung. In diesen Kreisen hat man meist eine mehr oder weniger doktrinäre Vorstellung davon, was eine Revolution ist: Sie muss mit dem Sturz der Herrschenden einhergehen, mit dem Aufbau neuer Institutionen, mit der experimentellen Etablierung neuer Selbstorganisationsformen der nunmehr sich selbst Ermächtigten, vormals Beherrschten. Und darüber hinaus mit einer fundamentalen Transformation aller gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse. Der Nachteil dieser elementaren Revolution, die sich an Daten wie 1789 und 1917 orientiert, ist: dass sie nie – oder verdammt selten – passiert. Manche malen sie sich aus. Aber sie bleibt Imagination.
Und dann gibt es die wirklichen Revolutionen, die sich niemand ausgemalt hat, die oft nicht einmal von ihren Protagonisten bewusst herbeigeführt wurden, und die dann plötzlich passieren. Irgendwie. Die alle überraschen. Deren Nachteil ist meist, dass sie den hohen Ansprüchen der elementaren Veränderung nicht genügen, sondern in aller Regel auf halbem Wege stecken bleiben. Deren Vorteil freilich ist, dass sie tatsächlich stattfinden.
Aber sind es denn deshalb keine Revolutionen? Nein, wenn sie nichts ändern außer der Zusammensetzung des herrschenden Personals. Doch gerade die arabischen Revolutionen, die wir jetzt erleben, dürften weit darüber hinausgehen. Autokratische Regimes werden wohl durch freiheitlichere Regierungsformen ersetzt werden. Mit mehr Pressefreiheit, mehr Freiheitsrechten, ohne Zensur und Folter. Selbstredend ist das alles nicht sicher ausgemacht – eine plötzliche historische Chance jedoch schon. Derartige Umbrüche sind selbst zugleich Folge einer viel eminenteren Revolution, einer mentalen Revolution. Und das ist womöglich das Bedeutendste: Die Bürger und Bürgerinnen haben ihre Frustration, ihren Zynismus und ihr Sich-Fügen abgeschüttelt. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass es auf sie ankommt, auf jeden einzelnen. Das ist gerade in Systemen von immenser Bedeutung, in denen die Passivität der Leute bislang ein ebenso effektiver Verbündeter der Autokraten war wie die Folterknechte ihrer Geheimpolizei.
Es mag schon sein, dass uns im Westen an diesen Revolutionen eigentümlich vorkommen mag, dass sich die Revoltierenden nicht irgendeine ideale Gesellschaft ausmalen, in der sie künftig leben wollen, sondern eine, die in etwa so funktioniert wie unsere: mit intakten Institutionen, mit Parlament und unabhängigen Gerichten und freier Presse. Käme man ihnen damit, dass auch bei uns nicht alles prima sei, würden sie uns womöglich nicht widersprechen, aber sicher in Gedanken hinzufügen: Eure Probleme möchten wir haben.
Die Revolte, eine mittelmeerische Tradition?
Soll man sie Revolutionen nennen oder vielleicht doch eher Revolten? Womöglich sind das tote Dichotomien. Albert Camus schrieb einst in seinem Loblied auf die Revolte, in dem er die Revolution verwarf: Die Revolutionäre wollten die Welt nach einer Idee gestalten, die der revolutionären Tat vorausgeht, „um eine Welt in einem theoretischen Rahmen zu erschaffen“. Die Theoretiker der Revolution würden deshalb alle Revolten bekämpfen, die sich in diesen doktrinären Rahmen nicht einfügen und stattdessen ihreseits die Menschen zum Ding einer imaginierten „historischen Notwendigkeit“ machen. Die Revolte dagegen ist für Camus’ Existenzialismus die Weigerung des Menschen, „als Ding behandelt zu werden“. In unserem Zusammenhang ist es nicht unwitzig, dass Camus die Revolution einen deutschen Traum – gewissermaßen den Traum orthodoxer Bücherwürmer –, die Revolte aber eine mittelmeerische Tradition nannte.
Wahrscheinlich ist all das nur mehr philologisch interessant, aber heute ohne Relevanz. Um die klassische und wunderbare Formel von Michel Foucault zu gebrauchen: Die Bürger erheben sich, weil sie so nicht mehr regiert werden wollen. That’s it. So einfach und doch so fundamental. Ob wir das jetzt Revolution nennen oder nicht, ist dem historischen Prozess schnurzegal. Aber vielleicht sollten wir bedenken: Es sieht aus wie eine Revolution, es riecht wie eine Revolution. Es wird wohl eine Revolution sein.
Robert Misik ist Schriftsteller und Journalist
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.