Freiheit, Gleichheit, Streikheit

Umdenken Der Protest gegen die Ungerechtigkeit ist deshalb so schwach, weil er sich nicht verständlich machen kann. Ein Plädoyer für eine neue, progressive Sprache

In ganz Europa bietet sich ein ähnliches Bild: Nachdem die Regierungen erst durch Bankenrettungsprogramme eine Kernschmelze auf den Finanzmärkten und danach mit massiven Konjunkturprogrammen den Totalabsturz der Wirtschaft verhindert haben, wird jetzt flächendeckend gespart. Schließlich müssen die öffentlichen Haushalte ja irgendwie wieder ins Lot gebracht werden. Und dabei wird auf soziale Fairness nicht immer geachtet. Nachdem die Rettungsmilliarden eher den Vermögenden zugute gekommen sind – schließlich wurden mitsamt den Finanzinstitutionen ja vor allem die Vermögen jener gerettet, die über Finanzvermögen verfügen –, so zahlen jetzt alle; nein, falsch: oft zahlen relativ gesehen jene mehr, die ohnehin nichts haben. Der Gipfel der Frivolität in Deutschland ist die Streichung des Elterngeldes für Hartz-IV-Empfänger. Während Gutverdiener auf ein paar Euro verzichten müssen, werden denen gleich 300 Euro gekürzt. Auf die Straße geht kaum jemand. Weil Hartz-IV-Empfänger keine Lobby haben und auch kein Drohpotenzial.

Und wenn jemand protestiert – wie derzeit in Frankreich oder beim LKW-Fahrerstreik in Griechenland, oder bei den Streiks in Spanien –, dann hat das schnell den Geruch der Verteidigung von Partikularinteressen. Ob das nun stimmt oder nicht, in der öffentlichen Wahrnehmung erscheint es dann schnell so, dass die Menschen gegen jene Pläne anrennen, die sie selbst negativ betreffen. Prompt ist damit ein diskursives Setting geschaffen, das in etwa so lautet: Einzelne verteidigen „Besitzstände“, obwohl „wir“ doch alle sparen müssen.

Das Fundament des Glücks

Parteien, Gewerkschaften oder auch Nichtregierungsorganisationen sind daran nicht ganz unschuldig. Allzu oft argumentieren sie im Jargon von Interessen. Dagegen tun sie sich schwer, mit Begriffen von „Werten“ zu argumentieren und ein konzises Bild einer „guten Gesellschaft“ und eines „guten Lebens“ zu zeichnen. Dies ist noch eine Schwundform der Klassenkampfrhetorik, die einst davon ausging, ein Kampf zur Besserstellung der Unterprivilegierten brauche keine Werte, sondern nur Einsicht in eine „objektive Interessenslage“.

Dabei ist doch gerade die Linke eine wesentlich von Werten getriebene Kraft. Sie ist nicht nur deshalb dafür, dass auch Arme eine materielle Ausstattung erhalten, die ihnen ein Leben in Würde erlaubt, weil das im simplen „materiellen Interesse“ der Unterprivilegierten wäre – sondern weil das ihren Idealen entspringt. Menschen machen sich für etwas stark, weil sie Ideale haben und weil diese Ideale sie motivieren, bestimmte Entscheidungen zu treffen.

Progressive sind für egalitäre Gesellschaften, weil das ihrem Wertekompass entspricht und sie sind deshalb gegen Sparmaßnahmen, die zu mehr Ungleichheit führen. Aber sie haben oft schlicht keine Sprache, keine Worte dafür. Und deshalb gebrauchen sie oft ein altes, totes Vokabular. Dies erschwert es aber, über die Gruppen direkt Betroffener hinaus Allianzen zu bilden.

Dabei wissen wir heute sehr genau, dass nicht nur die Armen ein Interesse an Gerechtigkeit haben, sondern auch die Wohlhabenden. Schließlich haben die Richard Wilkinson und Kate Pickett in ihrer fulminanten Studie Gleichheit ist Glück gezeigt, wie sehr gesellschaftliche Dysfunktionalitäten mit dem Grad an materieller Ungleichheit zusammenhängen. Soziale Mobilität, Kriminalitätsrate, Lebenserwartung, Teenagerschwangerschaften, Fettleibigkeit, allgemeine Lebenszufriedenheit – welchen Vergleich man heranzieht: überall schneiden egalitäre Gesellschaften besser ab. Und selbst Wohlhabenden geht es in ungleicheren Gesellschaften schlechter, als in eher egalitären Gesellschaften. Die allgemeine Lebenszufriedenheit sinkt in allen Einkommengruppen, je ungleicher Gesellschaften sind, weil dann die Statuskonkurrenz zunimmt, der soziale Stress wächst, weil das wechselseitige Vertrauen der Bürger zueinander sinkt und alle Institutionen schlechter funktionieren. Nur ein Beispiel: Im eher egalitären Schweden ist die Kindersterblichkeit selbst im Segment der zehn Prozent reichsten Einkommensbezieher niedriger als im vergleichbaren Segment in den USA.

Materielle Interessen ziehen nicht

Progressive haben also gute Argumente, wenn sie sagen, dass sie gegen soziale Härten gegen Unterprivilegierte sind – und zwar, weil das nicht nur den Armen schadet, sondern eben uns allen. Der neugewählte Labour-Chef Ed Miliband hat das kürzlich in seiner Antrittsrede so formuliert: „Der Graben zwischen den Armen und den Reichen fügt nicht nur den Armen Schaden zu, er schadet uns allen.“

Aber wir sollten noch weiter gehen und offen sagen: Als Linker bin ich nicht nur deshalb gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit, weil Gesellschaften dann schlechter funktionieren. Selbst wenn dem nicht so wäre, wenn also der allgemeine Nutzen von Gerechtigkeit nicht so sicher wäre, würde ich dennoch nicht plötzlich für Unfairness plädieren. Ich bin nicht nur deshalb gegen Ungleichheit, weil sie auf so vielfältige Weise schädlich ist, ich bin auch gegen die Ungleichheit, weil sie gegen meinen inneren ethischen Kompass verstößt. Nur so kann man sich, auch wenn man die Interessen bestimmter Gruppen vertritt, an die Allgemeinheit richten.

Man kann sich, auch wenn man vordergründig verschiedene Interessen hat, gemeinsam für etwas einsetzen, wenn man das auf Basis geteilter Werte macht. Und andererseits wird man sich, etwa als unterprivilegierte Gruppe, für seine Interessen nur dann starkmachen können, wenn man sie so formuliert, dass andere dies auf Basis geteilter Werte unterstützen können. „Die simple Behauptung, etwas wäre in unserem materiellen Interesse – oder es wäre gegen unser materielles Interesse –, wird die meisten von uns in den meisten Fällen nicht befriedigen. Wenn wir andere davon überzeugen wollen, dass etwas richtig oder falsch ist, brauchen wir eine Sprache, die Ziele formuliert“, schrieb der jüngst so tragisch verstorbene anglo-amerikanische Intellektuelle Tony Judt in seinem Buch Ill fares the land, seinem geistigen Vermächtnis.

Natürlich müssen wir uns davor hüten, zu moralisieren, denn süßlicher Moralismus hat etwas Uncooles. Aber wir sollten auch nicht vergessen, dass breitere gesellschaftliche Allianzen immer von einer geteilten Moralität zusammengehalten werden, mag diese auch noch so subkutan sein.

Ja, Interessen spielen eine Rolle und die Frage nach der effizienten Organisation einer möglichst funktionstüchtigen Gesellschaft ist keine Nebensache. Aber wir sollten uns schon auch ein paar Fragen darüber hinaus stellen. Sind unsere Gesellschaften in einem Zustand, den wir als optimal und lebenswert für alle betrachten können? Werden sie dem Ziel gerecht, das möglichst größte Glück für die möglichst größte Zahl von Menschen zu realisieren? Wie wollen wir leben?

Wettbewerb, Individualismus und Ungleichheit – das waren die Bausteine der Ideologie, die die vergangenen zwanzig Jahre geprägt haben. Sie erwiesen sich nicht nur als dysfunktional für eine stabil prosperierende Wirtschaft. Sie waren auch völlig unangemessen, bedenkt man die technologische Entwicklung hin zu einer Netzwerk-Ökonomie mit vielfältigen Interdependenzen und der Entstehung einer globalen Ordnung, in der der eine seinen Vorteil nicht mehr langfristig sichern kann, wenn er auf dem Nachteil des anderen basiert. Aber was wären dann die Schlüsselbegriffe für eine andere Ära? Sie lauten: Kooperation, Kreativität und Gleichheit.

Gelingendes Leben

Kooperation, weil die Menschen mehr zustande bringen, wenn sie mit anderen zusammenarbeiten – wir sind keine primär konkurrenzlerischen Wesen.

Kreativität, weil wir alle Dinge tun wollen, denen wir einen Sinn zuschreiben, weil wir unsere Talente entwickeln wollen und weil eine Gesellschaft besser fährt, wenn alle die Möglichkeit haben, ihre Talente zu entwickeln – Kreativität meint das Beste am Individualismus, aber ohne den egoistischen Beiklang, der dem Wort längst anhaftet.

Gleichheit, weil eine Gesellschaft lebenswerter ist, je egalitärer die Lebensbedingungen ihrer Bürger sind.

Was, wenn wir so zu sprechen begännen? Wenn wir die Frage aufwerfen, was denn ein gutes, ein gelingendes Leben für alle wäre? Wir dürfen es nicht akzeptieren, dass manche hoffnungslos zurückbleiben oder bereits als geborene Verlierer ins Leben starten. Alle müssen die Möglichkeit haben, aus ihrem Leben etwas zu machen, und niemand darf in Lebensverhältnissen gefangen sein, die chronische Armut mit Chancenlosigkeit und einer endlosen Kette an Demütigungen kombinieren. Und: Die ewige Tretmühle der Konkurrenz verpestet das Leben aller.

Dass heute so viele so vieles stumm hinnehmen, hängt also damit zusammen, dass den politischen Akteuren die Sprache fehlt, die Dinge fruchtbar zu formulieren. Letztendlich haben heute alle progressiven Milieus ein Kommunikationsproblem, nicht nur die sozialdemokratischen Parteien, über deren aseptische Polit-Sprache sich viele lustig machen. Ähnliches gilt für die Linksparteien mit ihren oft leeren halbstarken Worthülsen und ihrer toten Klassenkampfrhetorik aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Und es ­betrifft die Gewerkschaften mit ihrem Funktionärs-Sprech, ebenso wie die linken Intellektuellenmilieus, es gilt für manche Nichtregierungsorganisationen sowie für antirassistische Aktivisten mit ihren hermetischen Wortgirlanden, die ohne Begriffe wie „Multitude“, „Diversity“, „Biopolitik“ und „radikale Intervention“ nicht auskommen können.

Jede dieser Sprachen ist bestens geeignet, die kleinen Truppen der jeweiligen Gesinnungsgruppen auf einen gemeinsamen Jargon einzustimmen und von anderen Milieus abzugrenzen. Sie sind aber völlig ungeeignet, über die überschaubaren Häuflein hinaus große Bevölkerungsgruppen für eine progressive Politik zu gewinnen, einen moralischen Referenzpunkt zu bilden, ein Ferment gewissermaßen, das einen neuen ethischen Block zusammenhält.

Progressive Politik fängt mit Sprache an.

Robert Misik ist Schriftsteller und Journalist. Er ist schon seit längerem der Linken dabei behilflich, ihre Sprachlosigkeit zu überwinden. Kürzlich erschienen: Anleitung zur Weltverbesserung. Das machen wir doch mit links, Aufbau 2010

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