Wir sind viele

Dominoeffekt Egal ob Tahrir-Bewegung, Empörte oder Occupy: Der Protest stößt sich weltweit gegenseitig an. Bei allen Unterschieden: Es sind nicht nur Zelte, die die Demonstranten einen

Es ist die erste globale Revolution, die erste Weltrevolution in der Geschichte der Menschheit“, sagt Kalle Lasn. Der gebürtige Este, der weit weg von New York im kanadischen Vancouver residiert, ist dieser Tage ein gefragter Gesprächspartner. Schließlich, wenn auf jemanden das Attribut zutrifft: „Der Mann, mit dem alles anfing“, dann auf Lasn (siehe Interview, S. 11). Schließlich war es Lasns Magazin Adbusters, das im August E-Mails an 60.000 Unterstützer versandte:. „#OCCUPYWALLSTREET. Are you ready for a Tahrir moment? Dann strömt am 17. Septemer nach Lower Manhattan.”

Seither ist der Liberty Plaza im Bankendistrikt in Südmanhattan besetzt. Erst relativ unbemerkt, ignoriert von den Mainstream-Medien, wurde die Sache zwei Wochen später langsam zu einer „Story“, nicht zuletzt, weil die New Yorker Polizei gleich 700 von 1.000 Demonstranten verhaftete, die die Brooklyn-Bridge besetzt hatten. Als dann auch noch verschiedene Gewerkschaften dazu aufriefen, mit den Occupy-Leuten zu demonstrieren, war endgültig klar: Das ist keine kleine Sache, die schnell vorbeigeht. Plötzlich waren die paar Tausend Leute zu einer Big Story geworden.

Globale Revolution? Weltrevolution, wie Lasn sagt? Nun ja, ein Muster wechselseitiger Inspiration gibt es gewiss. Die New Yorker Occupy-Leute waren ja nicht die Ersten, die einen zentralen Platz in der Mitte einer Stadt besetzten. Die spanischen „Indignados“ („Empörten“) taten es, die israelischen jungen Linken, die griechischen Empörten am Syntagma-Platz und die „Indignés“ von Paris. Und sie alle wiederum waren natürlich inspiriert von den Bildern des Tahrir-Platzes. Und sie alle zusammen geben wiederum ihrerseits ein Vorbild ab. Millionen sehen die Bilder im Fernsehen und ein paar Zehntausende denken sich – „Das machen wir auch.“ Ergebnis: Occupy-Frankfurt, Occupy-London.

Das Gefühl: Zukunftslosigkeit

Allzu viele sind natürlich nirgendwo auf der Straße. Kaum wo kampieren mehr als ein paar Hundert Aktivisten, kaum wo kamen mehr als ein paar Tausend zu den Demonstrationen zusammen und auch in New York, worauf sich alle Augen richten – die Stadt ist ja nicht nur die heimliche Hauptstadt der Welt, sondern Zentrale des globalen Finanzsystems –, waren nie mehr als zehntausend Demonstranten gleichzeitig auf der Straße. Es ist mehr die Beachtung, die die Bewegung genießt, die ihr plötzliche Bedeutung verleiht.

„Die Bewegung drückt aus, was viele Menschen über unser Finanzsystem denken“, sagte US-Präsident Barack Obama, und Die Zeit kommentierte vor ein paar Tagen: „Die Occupy-Leute finden so viel Gehör, weil sie recht haben.“

Weil diese Bewegung existiert, hat sie die öffentliche Debatte schon merklich beeinflusst. Überall in der westlichen Welt gibt es einen massiven Zorn in der Bevölkerung: Über Banker, die sich massive Boni zuschanzen, die globale Wirtschaft an die Wand gefahren haben und jetzt mit Steuergeldern gerettet werden müssen; die ihre Profite privatisierten und die Verluste jetzt verstaatlichen. Diese „politischen Gefühle“ sind überall ähnlich. Aber natürlich gibt es signifikante Unterschiede. In den USA hat die junge Generation den Eindruck, dass die Zukunft vor ihr ein schwarzes Loch ist – das Land ist in einer tiefen Stagnation, und die soziale Ungleichheit hat einen Grad erreicht, wie man es früher nur aus Ländern wie Peru oder Bolivien kannte. In Spanien oder gar in Griechenland ist es noch viel schlimmer: 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, der praktische Totalzusammenbruch einer ganzen Volkswirtschaft mit buchstäblicher Zukunftslosigkeit einer ganzen Generation. In den reichen Euro-Staaten wie Deutschland oder Österreich oder den Niederlanden sind die Bedingungen andere, in den reichen Ländern außerhalb der Euro-Zone, wie etwa Schweden, sind sie wieder anders. Es wäre absurd, so zu tun, als wären die Quellen der Empörung überall gleich – New York, Frankfurt, Athen.

In New York, Seattle, San Francisco, wo jetzt überall lokale Occupy-Gruppen aus dem Boden schießen, ist noch etwas signifikant anders: Hier engagieren sich jene, die vor drei Jahren noch vor Begeisterung glasige Augen hatten, als mit Barack Obama ein linksliberaler Präsident mit einem Erdrutschsieg ins Weiße Haus einzog, und die jetzt enttäuscht und frustriert sind. Weil Obama dauernd einknickt vor den Republikanern. Und weil sich nichts verändert hat an der Dominanz des Finanzsektors. In der Clinton-Regierung haben Robert Rubin von der Citigroup und Larry Summers den Finanzsektor liberalisiert. In der Bush-Regierung leitete Ex-Goldman-Sachs-Chef Henry Paulson das Finanzministerium. In der Obama-Regierung übernahm Timothy Geithner von der New Yorker Dependance der US-Notenbank dieses Amt, und Larry Summers feierte ein Comeback als Wirtschaftsberater des Präsidenten. Regierungen kommen und gehen, aber die Schlüsselpositionen bleiben in der Hand der Einflussagenten der Wall Street. Nach vielen Monaten der Depression macht nun Obamas linke Basis mobil. Viele verspüren einen großen Zorn, weil sie das Gefühl haben, dass eine riesige Chance verspielt wurde.

Diese signifikanten Unterschiede in den Ausgangslagen tragen natürlich, global gesehen, zur Vielstimmigkeit dieser neuen Bewegung bei. Und innerhalb der jeweiligen Bewegungen liegen die Dinge nicht viel anders. Es gibt nicht „die eine“ Forderung, und es gibt auch keine „Anführer“, die für die Bewegungen sprechen. Ein Umstand, den manche preisen: Ist das nicht die „Multitude“, die „Vielheit“, die einst Antonio Negri und Michael Hardt in ihrem gleichnamigen Theoriebestseller besungen haben? Ist das das neue Gesicht des „kommenden Aufstands“, wie er in einem französischen Pamphlet vorausgesagt wurde?

„Es ist unmöglich, das Thema der Gier der Wall Street in ein oder zwei Forderungen zu pressen“, sagt Cornel West, der berühmte amerikanische Cultural-Studies-Professor. Jenseits aller Multitude-Romantik ist offensichtlich: Bewegungen dieser Art haben seit 20 Jahren schon eine zunehmende Aversion gegen das Anführer-Wesen. Wer hier mitmacht, will die Spaltung in aktive Akteure und passive Claqueure, die ja gerade das Problem moderner (Post-)Demokratie ausmacht, nicht auch noch verdoppeln. Das Prinzip lautet: Keiner soll sich wichtiger machen als die anderen.

Der Ruf: Wohlstand für alle

Für Beobachter von außen ergibt das manchmal faszinierende demokratische Prozesse, oft wird aber gerade dadurch undurchsichtig, was jetzt eigentlich genau gefordert wird. Und die Medienöffentlichkeit kommt mit ihnen schwer zurecht, weil man für die Fernsehtalkshows Gesichter braucht.

Forderungen werden natürlich zuhauf geäußert: Nach einer Finanztransaktionssteuer; dass der Glass-Steagall-Act wieder eingeführt wird (der zwischen normalen Geschäftsbanken und dem riskanten Investmentbankengeschäft eine Firewall aufgezogen hatte); dass eine wirkliche Bankenreform kommt; ein Ende der Korruption in Washington. Manche haben noch viel radikalere Forderungen: das Ende des Kapitalismus. Vielstimmigkeit, einerseits. Andererseits: Natürlich weiß man, was die Leute wollen.

„Es ist doch klar, welche Art von Dingen die Occupy-Wall-Street-Demonstranten wollen, und es ist wirklich der Job politischer Intellektueller und von Politikern, das Kleingedruckte auszuarbeiten“, formuliert Paul Krugman, der Wirtschaftsnobelpreisträger. Simpel gesagt: Die Demonstranten wollen mehr Gerechtigkeit und Wohlstand für alle – wie man dazu kommt, sollen die Experten ausarbeiten. Eine etwas saloppe paternalistische Formulierung, für deren elitäre Schlagseite er sich anderntags entschuldigte: Er habe das nicht anti-demokratisch gemeint, sondern gefordert, dass es die Pflicht von Wissenschaftlern sei, tragbare Konzepte zu entwickeln, die dem Zorn der Demonstranten gerecht werden.

Er hätte das gewiss sensibler formulieren können, aber in der Sache hat Krugman natürlich recht: Es ist völlig klar, was die Demonstranten wollen. Sie wollen, dass es ein Ende hat, dass sich ein Prozent der Bevölkerung fast den gesamten Wohlstandszuwachs krallt. Sie wollen, dass es ein Ende hat, dass eine Branche sich Renditen von 20 Prozent gönnt, während die Gesamtwirtschaft kaum wächst. Eine Branche zudem, die noch dazu nichts Nennenswertes zum Produktivitätsfortschritt beiträgt, die nichts erfindet, was für die Bürger von Nutzen ist, die aber Instabilitäten schafft, die die Weltwirtschaft in den Abgrund stürzen. Wie viel präziser hätten es diejenigen denn gerne, die über „mangelnde Forderungen“ die Nase rümpfen?

Und im konkreten Fall ist es ja nicht so, dass wir eine Bewegung haben, denen die fortschrittlichen Wirtschaftswissenschaftler die Forderungen einflüstern müssen, es ist ja sogar so, dass die Wirtschaftswissenschaftler diese Bewegungen inspirierten. Joseph Stiglitz, ein anderer linker Ökonomie-Nobelpreisträger, hat ja quasi das Skript zu dieser Bewegung geliefert – mit einem Essay im Magazin Vanity Fair. Das oberste eine Prozent der US-Bürger krallt sich alles, hat er geschrieben. Im Senat und in der Regierung sitzen Leute aus diesem obersten einen Prozent, die für dieses eine Prozent regieren. Und den 99 Prozent der Menschen, die nichts abkriegen, bleibt nur übrig, ohnmächtig zuzusehen. „In Ägypten und Tunesien sind Regierungen gestürzt worden. Und wenn wir das sehen, sollten wir uns eine Frage stellen: Wann kommt das nach Amerika?“ Kalle Lasn und seine Leute mussten diesen Essay nur mehr in einen Besetzungsaufruf umarbeiten.

Der Erfolg: Kommunikation

Was können die Bewegungen dieser Art schaffen? Die richtigen Forderungen erheben. Eine Stimme in der öffentlichen Debatte werden. Dieser eine neue Richtung geben. Sie können lahmen Politikern Beine machen. All das ist wichtig, aber es ist natürlich nicht alles. Möglicherweise nicht einmal das Wichtigste: Sie entwickeln immer auch neue politische Verkehrsformen. Menschen treffen sich und unterhalten sich ernsthaft über politische Fragen. Sie stellen damit auch das Parolenhafte des politischen Betriebs infrage, auch das der Politiker, deren Meinungen sie teilen – und damit auch die Art und Weise, wie mit den Bürgern gesprochen wird. Die Politiker gehen in TV-Studios oder kommen zu Wahlkundgebungen, um den Bürgern oder ihren Anhängern Bescheid zu sagen, und wenn die Scheinwerfer ausgeschaltet werden, sind die Politiker schon wieder weg. Die Occupy-Bewegungen, sagt Richard Sennett, der berühmte Soziologe, sind auch Rebellionen gegen diese kranke Art politischer Kommunikation.

Robert Misik ist Schriftsteller und Journalist. Er ist schon seit Längerem der Linken dabei behilflich, ihre Sprachlosigkeit zu überwinden. Kürzlich erschienen: Anleitung zur Weltverbesserung. Das machen wir doch mit links Aufbau 2010


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