Begegnung mit sich selbst

Literatur In seinem Werk entwickelt der Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee eine Ethik der Einsilbigkeit. Heute wird er 70 Jahre alt

Europa schreibt – Afrika tanzt: Das beliebte Klischee hat jüngst eine zeitgemäße Anpassung erfahren. Denn in dem Trailer zur kommenden Fußball-Weltmeisterschaft dürfen auch Weiße mittanzen: die Nachfahren der Kolonisatoren, darunter diejenigen der jahrzehntelangen Machthaber im Apartheid-Regime.

Wer diesen Trailer im Vorprogramm zu Schande gesehen hat, der bemerkenswert texttreuen und meisterlich vom Blatt gespielten Verfilmung von J. M. Coetzees bekanntestem Roman mit John Malkovich in der Hauptrolle, kennt allerdings auch das Gegenbild zur ausgelassen tanzenden Regenbogengesellschaft. Dort unterbricht Lucy, zusammen mit ihrem Vater die einzige Weiße auf einer Party, die ihr Pächter Petrus veranstaltet, ihren Tanz jäh, als sie feststellen muss, dass auch ihre Vergewaltiger zu den geladenen Gästen gehören.

Die Vergewaltigung bleibt ungesühnt; Lucy trägt das dabei gezeugte Kind aus und muss sich, um auf dem Land halbwegs ungefährdet weiterzuleben, mit jenem Petrus verheiraten, der ihre Vergewaltiger deckt. Die Versöhnung ist eine erpresste.

Der 1940 geborene Coetzee, seinerzeit Professor für Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität von Kapstadt, hat bald nach Erscheinen von Schande Südafrika verlassen. Vermutlich war dafür unter anderem die Regierungspartei ANC verantwortlich, deren Vertreter dem Roman platterdings Rassismus vorwarfen – Coetzee hat diese Annahme allerdings nie ­bestätigt. Jedenfalls lebte er, als das Nobelpreis-Kommittee 2003 die beste Entscheidung seit 1969 traf, sich mit bemer­kens­wertem Mut über alle Bedenken von Freunden Schwarzafrikas oder der FIFA hinwegsetzte und ausgerechnet einem „weißen Afrikaner“ den Nobelpreis verlieh, bereits in Australien.

Bald darauf nahm er sogar die australische Staatsbürgerschaft an. Auch seine in diesem Jahrtausend bisher erschienenen Texte bezogen sich nur noch anfangs gelegentlich auf afrikanische Fragen. Elizabeth Costello, die ebenfalls in Australien lebende Protagonistin seines gleichnamigen Essay-Romans, sorgt noch mit zwei Reisen nach Südafrika für erzählerische Reflexionen der Frage, inwiefern Romane und philologische Studien in Afrika anderen Bedingungen unterliegen als in Europa.

Wieder in Südafrika

Die späteren Bücher hingegen haben mit Afrika nichts mehr zu schaffen: Die jungen Jahre, der zweite Band seiner Autobiografie, handelt von einer Phase, in der Coetzee in England lebte; Zeitlupe und Tagebuch eines schlimmen Jahres sind ausschließlich in Australien angesiedelt.

Im vergangenen Herbst aber ist mit Summertime ein Buch erschienen, das nach Auskunft des Klappentextes eine autobiografische Trilogie abschließt und bereits jetzt, in der gewohnt sorgfältigen Übersetzung Reinhild Böhnkes, auf Deutsch vorliegt. Leider unter dem unnötig vitalistischen Titel Sommer des Lebens. Dieser Band schließt nicht nahtlos an die beiden bisher vorliegenden (Der Junge und Die jungen Jahre) an, sondern überspringt Coetzees Zeit in den USA und handelt von den Jahren 1972 bis 1977, in denen er wieder in Südafrika lebte, während des „Höhepunkts der Apartheid“, wie eine Figur in dem Buch sagt.

Das Buch setzt denn auch mit ausdrücklich politischen Tagebuchaufzeichnungen aus diesem Zeitraum ein. Diese gerade fünfzehn Seiten einnehmenden Notizen sind allerdings, bis zu einem ebenso ­schma­len Konvolut von undatierten Fragmenten am Ende des Buches, auch schon alles, was einer Autobiografie im konventionellen Gattungsverständnis nahekommt. Und sogar in diesen Passagen nennt die berichtende Instanz sich selbst, wie schon in den ersten beiden Bänden, in der dritten Person.

Der „Rest“, also die knapp 250 Seiten dazwischen, sind nichts für Leser, die sich von einer Autobiografie die aufrichtige Enthüllung des Menschen erwarten, der hinter seinen anderen Büchern steht. Vielmehr führt hier ein Biograf des bereits verstorbenen John Coetzee – wie die im Zentrum stehende Person mit einer kleinen Verschiebung gegenüber dem Autornamen J. M. Coetzee heißt – Interviews mit Menschen, die den Schriftsteller in den 1970er Jahren gekannt haben: mit einer kurzzeitigen Geliebten, einer von ihm umworbenen Tänzerin, einer Kollegin und einem Kollegen von der Universität sowie seiner Lieblingskusine.

Lesern, denen der unnahbar anmutende Coetzee ohnehin suspekt ist, werden dieses Verfahren für ein eitles Spiel halten, mit dem der Autor schon zu Lebzeiten Kontrolle über seinen Nachruhm auszuüben versuche. Tatsächlich wird sich ja nun jeder zukünftige Coetzee-Biograf damit auseinandersetzen müssen, dass er eine bereits von seinem Autor selbst entworfene Figur imitiert.

Warum aber sollte Coetzee verleugnen, dass er sich, als Erzähler und Literaturwissenschaftler, mit der komplizierten Dialektik von Enthüllung und Verhüllung auseinandergesetzt hat, die dem Schreiben von Autobiografien innewohnt? Deshalb schafft er für diese Dialektik eine ­eigene Form. Sein fiktiver Biograf ist skeptisch genug, nicht einmal den Tagebuch­auf­zeichnungen des verehrten Schriftstellers zu trauen, da dieser in all seinen Texten ein fictioneer, ein Geschichtenerfinder, sei. Und dieser Geschichtenerfinder freut sich teuflisch, wenn der Biograf die Wahrheit über ihn ausgerechnet von den Aussagen derjenigen Figuren erwartet, die sein Autor selbst erfunden hat.

Vielleicht ist diese verschraubte Konstruktion die Bedingung der Umbarmherzigkeit, mit der J. M. Coetzee seinem Alter Ego, also irgendwie doch: sich selbst begegnet. Denn die meisten Gesprächspartner des Biografen berichten ziemlich gnadenlos von John Coetzee, von seiner absurden, zu keinem Zeitpunkt erwiderten Leidenschaft zu einer weit älteren Brasilianerin, seiner Unfähigkeit zu tanzen oder seiner mangelnden Leidenschaftlichkeit beim Sex.

Seine politischen Haltungen kommen nicht viel besser weg. Zwar setzt er sich an der Universität für (schwarz-)afrikanische Literatur ein, verbindet dies aber mit der romantischen, primitivistischen Idee von dem Afrikaner, dessen Seele und Körper eins seien. Als Nachfahre holländischer Einwanderer, die noch zum Zeitpunkt der Handlung eine Farm in der Steppe betreiben, distanziert er sich in vielen, oft unbeholfenen Gesten von der Apartheid, will aber nicht so tun, als könne er sich einfach auf die Seite der Unterdrückten stellen. Nach der Lektüre des Buches kann man sich unschwer einen besseren Tänzer vorstellen, könnte dem Protagonisten aber keine bessere politische Haltung empfehlen.

Tatsächlich weiß Coetzee keine bessere Haltung. Seine Politik ist sein Schreiben, und zwar nicht das von Meinungen, sondern das eines sprachgerechten Geschichtenerfinders. „Literatur“ ist der Name ­derjenigen Textsorte, in der die Triftigkeit einer politischen Aussage mit der Genauigkeit ihrer sprachlichen Gestaltung zusammenfällt. Nicht umsonst reflektiert Coetzee immer wieder das Sprechen seiner Figuren.

Von Termiten ausgehöhlt

Wenn etwa Petrus in Schande das Wort benefactor (Wohltäter) verwendet, kommentiert eine Erzählinstanz, dieses von den einstigen Kolonialherren übernommene Vokabular sei von innen heraus, wie von Termiten, ausgehöhlt. Höchstens den einsilbigen Wörter könne noch vertraut werden. Darum hat Coetzee, bereits in den Romanen der frühen 1980er Jahre, eine Ethik der Einsilbigkeit im Wortsinn entwickelt. Vor allem in Leben und Zeit des Michael K. ist seine unheimliche, mathematisch-theoretisch-literarische Intelligenz ganz in die Strenge einer Form geronnen, die dem Protagonisten gerecht zu werden versucht.

Michael K, ein Gärtnergehilfe, der keine Chancen besaß, sich Bildung anzueignen, könnte immerhin große Teile der Geschichte verstehen, deren Hauptrolle er spielt. Im Englischen sind ja viele Gegenstände, mit denen er im Alltag zu tun hat, einsilbig. Ebenso wie die Verben für die grundlegenden Tätigkeiten, mit denen es Michael gelingt, in einem totalitären Südafrika seine Haut zu retten.

Sein Vokabular ist so spärlich wie seine Nahrung; denn nur weil er fast nichts zu essen braucht, entkommt er den Umerziehungs- und Arbeitslagern und überlebt auf einer aufgegebenen Farm. Mehrsilbig wird es nur, wenn ein allzu bemühter Arzt sich anschickt, Michaels benefactor zu werden, sich in ihn einzufühlen, um ihn als „Allegorie“ eines politischen Geschehens zu verstehen. Michael flieht vor diesen Übergriffen, vor diesem Einsatz an emotionaler Kompetenz und Weltwissen. Er zieht sich zurück auf eine Parkbank; „and in that way, he would say, one can live“, schließt der Roman mit zehn einsilbigen Wörtern.

Vielleicht braucht der Kontinent „Afrika“ etwas tänzerischen Optimismus; und die gegenwärtige Mode in der Gestaltung von Fußballtrikots, die alle Schattierungen des Farbspektrums ausnutzt, scheint der Ideologie der Regenbogengesellschaft entgegenzukommen. Mindestens ebenso wichtig aber sind erzählerische Analysen des Sprechens, in denen Versöhnung statthat oder eben nicht. Oder am schlimmsten: scheinbar statthat, in den Euphemismen, auf die sich große Teile der Post-Apartheid-Gesellschaft geeinigt haben. An einem anderen Ufer des Indischen Ozeans feiert heute J. M. Coetzee seinen 70. Geburtstag – wenn man sich vorstellen kann, dass er ihn „feierte“.

Robert Stockhammer ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München


Sommer des Lebens J. M. Coetzee. Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. Fischer, Frankfurt am Main 2009, 304 S., 19,95

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