Das Kunstfestival Ruhrtriennale findet, anders als es der Ausdruck in Analogie zur besser bekannten „Biennale“ nahelegt, jedes Jahr statt – nur der Intendant wird im dreijährigen Abstand ausgewechselt; diesmal ist es das zweite Jahr von Heiner Goebbels. Genau drei Jahre her ist es jedoch, dass sich das ganze Ruhrgebiet mit einem noch breiter angelegten Programm als eine einzige europäische Kulturhauptstadt feierte. Davon sind dem Leser wahrscheinlich noch die beiden spektakulärsten Umwidmungen von Lokalitäten in Erinnerung: die eintägige Verwandlung der A 40 in einen Fuß- und Radweg mit Artistenbühnen und Imbissbuden sowie die Nutzung eines ehemaligen Güterbahnhofs für die Love Parade. Ersteres ging gut, letzteres nicht.
Dabei hat man im Ruhrgebiet nun wirklich Erfahrung mit der Umwidmung von Lokalitäten; eigentlich ist das ganze Ruhrgebiet ein einziges gigantisches Umwidmungsexperiment. Nachdem auch die letzten Bergwerke und Stahlwerke, Hochöfen, Kokereien und Brauereien aufgegeben sind, hat man nur noch eine Industriekultur. Und damit kann leider nicht mehr, wie in den seligen Zeiten von Bauhaus, die Kultur der Industrie selbst gemeint sein, sondern vor allem zweierlei: eine Kultur der Erinnerung an die Industrie und eine irgendwie-anders-kulturelle Nutzung der von ihr hinterlassenen Areale.
Seit Tausende Nachfolger des Fotografen-paars Hilla und Bernd Becher mit ihren Kameras durch die Industrieparks stolpern, werden wahrscheinlich so viele Fotos von Hochöfen subventioniert wie früher Briketts. Die auf dem Gelände des Essener Zollvereins angesiedelten Studios für Lichtgestaltung und Galerien für Kohlezeichnungen von Fördertürmen sind dennoch zuversichtlich, dass sich das Ruhrgebiet ganz auf die „Kreativwirtschaft“ umstellen könne – nur phantasielose Leute wie ich können sich nicht vorstellen, dass eine Wirtschaft ganz ohne Produktion von Stahl oder Spaghetti auskommt.
In der Kraftzentrale
Um nicht missverstanden zu werden: Die Industrie hat großartige Gebäude und Areale hinterlassen, deren Anziehungskraft sich nicht schnell abnutzt. Diesen erhabenen Denkmälern ist jeder konservatorische Ehrgeiz gerade deshalb angemessen, weil er an ihnen notwendig scheitert. Da man unmöglich alles vor dem Verrosten retten kann, stellt man heroischerweise das Verrosten mit aus. Selbst wenn Richard Serra nicht allerorten seine Stahlplatten dazwischengestellt hätte, wäre das Ganze ein gigantischer Serra. Denn dass man Serras Stahlgebilde irgendwann nicht mehr von denen unterscheiden kann, die nicht von Serra sind, ist Serras größter Triumph.
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Ein Serra?
http://imageshack.us/a/img89/4273/yklw.jpgEindeutig ein Serra!
„Dear Heiner, Responding to the industrial architecture of the Kokerei...“, beginnt folgerichtig der Brief des Installationskünstlers Douglas Gordon, mit dem er dem Intendanten ankündigt, dass er für die Kokerei am Rande des Zollvereins eine „Industrial Pantomime“ plant: Kunst heißt im Ruhrgebiet, auf dessen Architektur zu antworten. Der schöne Gesamtkatalog der Ruhrtriennale verfügt über einen Teil, der auf Doppelseiten die Spielorte selbst vorstellt, mit jeweils einem Bild und einer kleinen Geschichte, typischerweise mit den Stadien: um 1900 gebaut, um 1970 stillgelegt, um 2000 in einen multifunktionalen Veranstaltungsort umgewandelt.
Wahre Meister der Umwidmung sind die Duisburger. Diese Stadt ist zwar wirklich schwer geschlagen: erst die Abwicklung der Industrien, dann die tödliche Love Parade, darauf ein Bürgermeister, der, obwohl nach 1945 geboren, den Vornamen Adolf trug und sich entsprechend stur weigerte zurückzutreten, jetzt hat gar der MSV, immerhin allererster Tabellenführer der Bundesliga überhaupt, nicht einmal mehr die Lizenz für die zweite erhalten. Aber am Rand von Duisburg befindet sich der Landschaftspark Nord, das beeindruckendste unter allen Industriearealen des Ruhrgebiets, weil es angesichts der Gigatonnen von dahinrostenden Gebäuden schlechterdings nicht beherrschbar, schlechterdings nicht in pflegeleichte Industrie-Erinnerungs-Kultur verwandelbar ist. Dieses Areal wird wahrlich multifunktional genutzt: Im Gasometer trainieren die Taucher, im Möllerbunker die Kletterer, und den deutschen Wortschatz kann man anhand von Erinnerungstafeln mit Sätzen wie diesen trainieren: „In den Schlackenschäumanlagen wurde die Schlacke, ein Nebenprodukt bei der Roheisenerschmelzung, durch ‚Abschrecken‘ mit Wasser zu Schaumschlacke weiterverarbeitet.“ Auch das ist Industriekultur: Von der Stahlherstellung bleibt immerhin die Satzherstellung, sozusagen Serra für Leser.
Auf diesem Gelände steht, gleich neben der Jugendherberge, auch eine 170 Meter lange leere Halle, deren Name „Kraftzentrale“ als Antwort eine Art von strukturierten Lärm erwartet, wie ihn etwa die britische Band Throbbing Gristle vor gut 30 Jahren in Hallen wie dem vergleichsweise winzigen SO 36 produziert hat; man nannte das damals „industrial“, es war sozusagen Serra für die Ohren. Bloß waren Throbbing Gristle meines Wissens nie berühmt genug, um vier Abende hintereinander jeweils gut 2.000, sich in der Halle verlierende Zuhörer anzuziehen.
Es schien daher eine gute Wahl zu sein, Massive Attack in die Kraftzentrale einzuladen. Weil diese Gruppe inzwischen auch schon wieder zu denjenigen gehört, bei denen sich ältere Menschen wundern, dass es sie immer noch gibt, muss man kurz erklären, dass sie in der ersten Hälfte der Neunziger, zusammen mit Portishead und einigen anderen, den TripHop entwickelt haben. Die Nähe dieses Genrenamens zu HipHop ist etwas irreführend, weil die häufig wechselnden Stimmen in dieser Musik viel mehr singen als rappen. All diese vokalische Opulenz wird jedoch von einer eigenwilligen Instrumentierung konterkariert: von einer extrem kurzatmigen Drum-Machine, synthetischen Streichern, die schon in den Neunzigern künstlicher klangen als nach dem Stand der Technik möglich, dazwischentrötenden Geräuschen (wenngleich nicht so melodisch dysfunktional wie bei Portishead) sowie zäh schleppenden, mahlenden Basslinien, die sogar meine konservativ ausgelegte Musikanlage im Auto zum Brummen bringen. Die Musik klingt „post-industrial“, passt zum Gedenken an die Stahlwerke, deren Einmottung ja spätestens in den Neunzigern vollzogen war.
Die Auftritte in der Kraftzentrale sollten jedoch nicht einfach Konzerte sein, sondern wurden mit einem Film des englischen Dokumentarfilmers Adam Curtis kombiniert; angekündigt war das Ganze als Massive Attack V Adam Curtis. Tatsächlich war Massive Attack da, oder besser: die unter dem Namen Massive Attack bekannten sowie einige weitere Musiker. Tatsächlich wurde auf elf riesigen Leinwänden ein Film von Adam Curtis gezeigt. Er hatte die eher schlichte Message, man könne die Zukunft nicht kontrollieren, was mit einem didaktischen Durchgang durch die Geschichte des letzten halben Jahrhunderts bewiesen werden sollte und mit vielen Bildern aus den USA und UdSSR/Russland einen gewissen Assoziationsspielraum entfaltete.
Umwidmungsprozesse
Was aber nicht stattfand, war das V, das doch eine Abkürzung für versus, hier also für eine spannungsgeladene Auseinandersetzung zwischen Musik und Filmbildern sein sollte. Über weite Strecken sorgte Massive Attack für den Soundtrack: Wenn etwa Twist tanzende Menschen gezeigt wurden, spielte die hinter drei der Leinwände halb versteckte Combo einen Twist; wenn eine schöne, an Krebs erkrankte Frau gezeigt wurde, sang eine Gastsängerin ein melancholisches Lied. Gegen Ende kehrte sich das Verhältnis zwar um: Die Musik wurde dominant und wummerte endlich so laut, wie man dies als Antwort auf eine Kraftzentrale erwartet – dies jedoch wurde von flackernden, schnell geschnittenen, elektronisch verfremdeten Bildern begleitet, mit denen der Regisseur den Musikern eine optische Spielwiese ausgelegt hatte, auf der sie sich mal so richtig austoben dürfen.
Zum Glück war dieses missglückte Großereignis nicht typisch für die Ruhrtriennale. Heiner Goebbels hat nämlich ganz verschiedene künstlerische Antworten auf die Industrieareale in loser, aber stimmiger Verbindung zusammengestellt. Dazu gehört eine riesige Dusche vor der ehemaligen Kohlenwäsche auf dem Zollvereingelände, die noch kurz vor Mitternacht 20.000 Liter Wasser pro Minute auf mehr oder minder zufällig vorbeikommende Freiwillige gießt. Dazu gehört, in einem sehr viel weniger besuchten Bereich des Zollvereingeländes, auch die bereits angesprochene industrielle Pantomime Douglas Gordons, die der Besucher vom obersten Stockwerk aus betritt, wo er zunächst einmal die Kunstmaschine, also die Licht- und Tonanlage bewundern kann – um dann im Stockwerk darunter festzustellen, dass die großen Scheinwerfer in den hohen staubigen Hallen gerade einmal reichen, dass der Besucher im Dreivierteldunkel nicht gegen die Mauern stößt.
Und dazu gehört die, von dem Intendanten selbst inszenierte, europäische Erstaufführung einer Oper von 1966, Delusion of the Fury von Harry Partch, mit der die Frage nach der Industriekultur in vergleichsweise dezenter Lautstärke und bemerkenswert unelektrisch erörtert wurde. Nicht nur wegen einer Anspielung auf die Bochumer Opelwerke, sondern vor allem wegen der Weise, wie da auf welchen Instrumenten gespielt wurde. Diese Instrumente, überwiegend Perkussionsinstrumente, mussten eigens gebaut werden, um Partchs mikrotonale Harmonik umzusetzen, die ein Laie nicht auf Anhieb von Geräusch unterscheiden kann. Noch wichtiger: Die 22 Akteure unterliefen die opernhafte Arbeitsteilung, spielten nicht nur ohne Dirigent die Instrumente, sondern sangen auch und agierten, in wechselnden Verkleidungen, in verschiedensten Rollen. Umgewidmet wurden dabei nicht zuletzt Bergbaukopflampen, die sich auch ausgezeichnet dazu eignen, um im Dunkeln Partituren auszuleuchten und die Hände zum Spielen frei zu haben.
Kunst kann, so scheint mir, im Ruhrgebiet mit einem höheren Wirkungsgrad funktionieren als etwa in München, wo sie vor allem dem Niveau des Bildungsbürgers dient, oder in Berlin, wo ohnehin jeder zweite Bewohner Künstler ist. Zumindest eine solche Kunst, die Umwidmungsprozesse zugleich befördert und reflektiert.
Robert Stockhammer ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in München, wobei der Vergleich zur Popmusik in seiner Arbeit gern gezogen wird
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