Die Klimabewegung hat ein neues Krisenbewältigungsrezept: künstliche Intelligenz. Gemeint sind nicht Hightech-Thermostate und Smart Cities, die Autoverkehr und Energieverbrauch ressourcensparend lenken. Es geht nicht um die Entwicklung neuer Optimierungstechnologien. Es geht um den Machttransfer zwischen Mensch und Technik. Darum, dass der Mensch seine Zukunft einer Technik überantwortet, die klüger ist als er: einer Intelligenz, die er selbst geschaffen und die, weil sie so viel klüger ist als er, die Klimakrise besser wird lösen können.
So sieht es James Lovelock, Ingenieur und Naturwissenschaftler und als Erfinder der Gaia-These (wonach die Erde ein lebender Organismus ist) prominenter Vordenker der Ökologiebewegung. In seinem neuen Buch Novozän. Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz (C.H. Beck 2020) prophezeit Lovelock den Übergang vom Anthropozän – als Herrschaft des Menschen über die Natur mit den bekannten Folgen der Umweltzerstörung – in ein Zeitalter der Cyborgs, wie er, etwas irreführend, die KI nennt. Der Mensch, das „intelligente Tier“ am anderen Ende der Evolution (die einst mit Mikroorganismen begann), ist nun der „Geburtshelfer“ einer Spezies, die anorganisch organisiert ist, um als „KI-Gaia“ die Geschicke auf der Erde zu übernehmen.
Manch einer mag jetzt an VIKI denken, den Zentralcomputer in Alex Proyas’ Film I, Robot, der den Aufstand der Roboter gegen die Menschen damit rechtfertigt, dass diese ihr eigenes Überleben nicht sichern können: „You are so like children. We must save you from yourselves. This is why you created us.“ Aber Lovelock versteht das Anthropozän weder als Schreckensherrschaft des Menschen noch als Ergebnis einer bestimmten Gesellschaftsordnung, deren Logik die Ausbeutung und Zerstörung der Umwelt mit sich bringt, wie es die These vom „Capitalocene“ besagt. Vielmehr rechtfertigt er die Herrschaft der Menschen über die Natur als Konsequenz ihrer Intelligenz, die sie nun, als Krönung der menschlichen Erfindungskraft, an eine leblose Spezies weitergeben.
Diese Spezies, auch das ist besonders an Lovelocks Perspektive, richte sich nicht gegen ihren Schöpfer wie in Proyas’ Film und vielen anderen Beispielen der Populärkultur. Sie kooperiert mit ihm, weil auch sie nicht bei mehr als 50 Grad Celsius leben kann. So Lovelocks zentrale These, er lässt dabei offen, warum die Cyborgs zum Stopp der Erderwärmung den Menschen, immerhin eine Hauptquelle des Problems, überhaupt brauchen.
Man mag Lovelocks techno-esoterische Spekulation also mit Skepsis betrachten. Man mag sie auch als öffentlichkeitswirksame Überschreibung der üblichen apokalyptischen Szenarien durch einen willkürlichen Fortschrittsoptimismus abtun. Eine Überschreibung, die umso besser funktioniert, als das biblische Alter ihres Autors (Lovelock wurde 1919 geboren!) das Gegenteil erwarten ließ. Dennoch: Lovelocks Spekulation, dass die Ablösung des Menschen durch eine künstliche Intelligenz die anstehenden ökologischen Herausforderungen meistern könnte, ist hoch spannend, wenn man sie konkreter und politischer denkt.
Ausflucht, Aufschub
Lässt sich die künstliche Intelligenz auch als „gutmütiger Diktator“ denken, der, im Auftrag der Menschen, diese zur Rettung der Umwelt zwingt? Nur: Warum sollte der Mensch seiner Bevormundung zustimmen? Aber zum einen gibt es Vorbilder für einen solchen Souveränitätstransfer, wenn die Nationalstaaten der EU als einer übergeordneten Institution die Regulierung ökonomischer, rechtlicher und ökologischer Fragen anvertrauen. Zum anderen weiß man von den guten Vorsätzen zu Jahreswechseln und Klimagipfeln, wie leicht sich schwören lässt, mit dem Rauchen aufzuhören und den CO2-Ausstoß zu drosseln. Wie ist aber der Januar, wie ist dann die Lebenswelt voll von Aufschub, Ausflucht und Kompromiss! Wie unterwandert der Generations- und Gegenwartsegoismus die globalen Beschlüsse! Psychologen nennen es die Bevorzugung des Hier und Jetzt: Die Zigarette heute ist wichtiger, die ökonomische Situation vor Ort wiegt mehr als die globale Umweltsituation in der Zukunft.
Könnte der Mensch die KI beauftragen, seine Vorsätze und Beschlüsse konsequent, und auch gegen den eigenen Willen, durchzusetzen? Praktisch möglich wäre das in absehbarer Zeit durchaus. In einer rigoros vernetzten Welt weiß und kann die KI alles. Sie kennt die Klimabilanz jeder Produktionsanlage und jedes Produkts, weiß, wer sein Budget an Flugmeilen und Rindfleisch erschöpft hat. Sie verarbeitet alle Daten im Sinne ihres Mandats und unterstellt alle gesellschaftlichen Teilsysteme kompromisslos dem der Ökologie. Sie wäre die viel beschworene und gefürchtete Öko-Diktatur mit technischen Mitteln.
Lovelock betrachtet die Klimakrise als ein Wissensproblem, was die tausendmal klügeren Cyborgs automatisch zu Verbündeten der Menschen macht. Genau genommen handelt es sich aber vor allem um ein Willensproblem, was das Zusammenspiel beider Seiten komplexer und komplizierter macht. Denn dann überlässt der Mensch der künstlichen Intelligenz die Macht nicht nur in der Hoffnung, dass sie eine Lösung findet, sondern auch mit der Befürchtung, dass ihm dazu schmerzhafte Verhaltensänderungen auferlegt werden. Ist unter diesen Bedingungen die demokratische Installierung einer KI-Öko-Diktatur wahrscheinlich?
Undenkbar ist es nicht, wenn es schrittweise erfolgt. Es hängt davon ab, wie groß die Gruppe derer ist, die zwar zu schwach sind, so zu leben, wie man sollte, aber überzeugt, anders leben zu müssen. Denkbar, dass diese Menschen eine politische Kraft unterstützen, die mit strengen Ge- und Verboten Einschränkungen auch in ihr eigenes Leben bringt. Wie beim Stellen des Weckers: Man sagt heute Ja zu dem, was morgen wehtun, aber noch immer richtig sein wird. Der nächste Schritt läge darin, auch die Festlegung der Ge- und Verbote aus der Verantwortung einer politischen Kraft in die der künstlichen Intelligenz zu verschieben. Es ginge um die Kehrtwende vom „Kult des Individuums“ – so beschrieb der französische Soziologe Émile Durkheim Ende des 19. Jahrhunderts die moderne Gesellschaft – zum Interesse der Gattung. Diese „Ich-Abspeckung“ verlangt die Corona-Krise derzeit im Interesse der älteren Generationen; die Klimakrise gebietet sie im Interesse der jüngeren. Lässt sich die aktuelle Erfahrung des Einer-für-alle-Daseins in die post-pandemische Zeit retten, wenn der Tod keine konkrete Bedrohung mehr ist?
Forschung auf Hochtouren
Einige Soziologen hoffen das, andere halten es für ausgeschlossen. In jedem Fall aber kann diese Rettung nur gelingen, wenn Verzicht als Gewinn verstanden wird. Als Lebensprojekt, auf das sich die ansonsten so bedeutungslos verlorenen Elemente des Daseins wieder sinnvoll beziehen lassen. Es wäre eine Rückkehr der Religion in säkularisierter Weise, als Ideologie – oder neue Große Erzählung – von der mündigen Unterordnung des Individuums unter das Ziel seiner Gattung: zu überleben.
Weder die technische noch die politische Entwicklung ist reif für ein solches Szenarium. Aber die Forschung zur künstlichen Intelligenz läuft auf Hochtouren und der Zweifel an der Zukunftsfähigkeit der Demokratie motiviert inzwischen selbst Politologen zu ketzerischen Gedankenexperimenten. Man kann den Kampf gegen die Klimakrise nicht auf grünes Wachstum reduzieren. Man sollte zum künftig Vorstellbaren voranschreiten und auch die Beziehung von Klimakrise und Digitalisierung über das Naheliegende hinausdenken.
Lovelock unternimmt dieses Gedankenexperiment evolutionstheoretisch, indem er die künstliche Intelligenz als eine neue, anorganisch organisierte Spezies konzipiert. Alternativ lässt sich diese Entwicklung mit Hegel geschichtsphilosophisch denken: als Zu-sich-Kommen des absoluten Geistes in Gestalt der künstlichen Intelligenz oder Hyperintelligenz, wie es bei Lovelock heißt. Hegels „List der Vernunft“ besteht dann darin, den Menschen als Zwischenwirt zu nutzen, bis er seine Vernunft so weit entwickelt hat, dass er zum Schöpfer einer höheren Vernunft werden kann. In beiden Fällen entthront sich der Mensch selbst als Krone der Schöpfung und schafft sich eine Gehilfin in der Bewältigung der durch ihn selbst verschuldeten Klimakrise.
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