Angriff auf die Freiheitsrechte

Rede auf der Kundgebung von Attac Schilys Anti-Terror-Gesetze gefährden die Grundrechte. CSU-Beckstein will noch schneller einen autoritären Sicherheitsstaat

Terror stärkt den Staat und entwertet Freiheitsrechte - das hat sich seit dem 11. September 2001 wieder deutlich gezeigt. Ein Jahr nach den Terroranschlägen in den USA ist es höchste Zeit, auch Bilanz darüber zu ziehen, was seitdem im Namen des "Anti-Terror-Kampfes", im Namen der Sicherheit angerichtet worden ist.

Ausgerechnet eine rot-grüne Bundesregierung hat die umfangreichsten "Sicherheitsgesetze" zu verantworten, die in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte jemals auf einen Streich verabschiedet worden sind - ohne auch nur die Frage zu stellen, ob nicht die bereits geltenden Gesetze zur Bewältigung der Gefahrensituation ausgereicht hätten.

Die "innere Sicherheit" beginnt hierzulande schließlich nicht bei Null, sondern kennt längst ein ausdifferenziertes System von Anti-Terror-Regelungen mit zahlreichen Sondereingriffsbefugnissen, kennt die Raster- und Schleppnetzfahndung, verdachtsunabhängige "Schleierfahndungen" und Videoüberwachungen, eine Fülle von Abhör- und Kontrollmöglichkeiten bis hin zum Großen Lauschangriff in und aus Wohnungen; nicht zu vergessen die seit Jahren verschärfte Ausländerüberwachung. Wir haben bereits eine Fülle von hochproblematischen Regelungen, angelegt auf Vorrat - sozusagen für den ganz normalen Ausnahmezustand.

Anders als viele bürgerrechtsbewegte Menschen gehofft hatten, gab es nach Ablösung der Kohl-Regierung 1998 - mit wenigen grün inspirierten Ausnahmen - kein wirkliches "Umdenken und Umsteuern in der Politik der sogenannten Inneren Sicherheit". Die bürgerrechtsfeindlichen Früchte dieser Politik wurden nicht auf den Prüfstand gestellt. Stattdessen hat die rot-grüne Bundesregierung weitgehend auf der Grundlage ihrer Vorgängerin aufgebaut.

Selbstverständlich gehört es zu den Aufgaben und Pflichten von Regierung und Sicherheitsbehörden, die Mittäter und Hintermänner der Terror-Anschläge zu ermitteln und mit geeigneten, aber angemessenen Maßnahmen für die Sicherheit der Bürger zu sorgen. Doch in einer solch aufgeheizten Situation der Angst und Unsicherheit wäre es Pflicht der Regierung gewesen, Realitätssinn und Augenmaß zu bewahren, statt dem Schrei nach dem "starken Staat" mit symbolischer Politik zu folgen, lang gehegte Pläne gleich paketweise aus den Schubladen der Macht zu zerren und mit Anti-Terror-Etiketten zu bekleben. Die sogenannten Otto-Kataloge sind in Windeseile unter Missachtung des Parlaments zustande gekommen; sie sind weitgehend ineffizient, schaffen kaum mehr Sicherheit, gefährden aber die Grund- und Freiheitsrechte umso mehr - so die bittere Bilanz seit ihrem Inkrafttreten:

n Schon bislang gehörten MigrantInnen zu der am intensivsten überwachten Bevölkerungsgruppe. Nun werden sie per Gesetz unter Generalverdacht gestellt und einem noch rigideren Überwachungsregime unterworfen. Mit dieser stigmatisierenden Sonderbehandlung werden fremdenfeindliche Ressentiments geschürt, werden Fremde zu gläsernen Menschen gemacht.

n Ausgerechnet die Geheimdienste, deren Versagen im Zusammenhang mit dem 11. September offenkundig geworden ist, erleben nach den Anschlägen einen regelrechten Boom. Sie werden aufgerüstet, bekommen neue Aufgaben und Kontrollbefugnisse, obwohl sie selbst kaum demokratisch zu kontrollieren sind.

n Tausende von Beschäftigten in sogenannten lebens- oder verteidigungswichtigen Betrieben (Energie-Unternehmen, Krankenhäuser, pharmazeutische Firmen, Bahn, Post, Telekommunikations- und Verkehrsbetriebe) werden künftig geheimdienstlichen Sicherheitsüberprüfungen unterzogen und ausgeforscht - und womöglich nicht nur sie, sondern auch ihre Lebenspartner und ihr soziales Umfeld.

n Künftig sollen weitere biometrische Daten in Ausweispapieren gespeichert werden - also körperliche Merkmale wie Finger-/Handabdruck oder Gesichtsgeometrie. Die biometrische Totalerfassung der Gesamtbevölkerung ist nicht nur ein unverhältnismäßiger Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung, sondern auch eine grandiose Misstrauenserklärung an die Bevölkerung. Sie degradiert den Menschen zum bloßen Objekt staatlicher Sicherheitspolitik.

n Mit dem neuen § 129b StGB können internationale Kontakte und politische Debatten mit ausländischen Vereinigungen, wie etwa der palästinensischen PLO, zum strafrechtlichen Risiko geraten. Auch auf europäischer Ebene treibt der "Anti-Terror" seltsame Blüten: Die EU-Mitgliedstaaten haben sich auf eine gemeinsame Terrorismusdefinition verständigt, die so weit gefasst ist, dass darunter selbst militante Straßenproteste wie die in Genua fallen könnten, oder Formen des zivilen Ungehorsams, wie Sitzblockaden vor Atomkraftwerken oder politische Streiks in Versorgungsbetrieben. Der "Gegenterror" macht auch vor dem Globalisierungsprotest nicht halt, der schon vor dem 11.9. mit Ausreiseverboten, Pass-Beschlagnahmen, Meldeauflagen und Polizeiaufsicht stark behindert worden ist.

Alles in allem: Es scheint, als befänden wir uns in einem nicht erklärten Ausnahmezustand, in dem die Kompetenzen und Befugnisse aller Sicherheitsorgane erweitert, die machtbegrenzenden Trennungslinien zwischen Polizei und Geheimdiensten aufgelöst werden, ganze Bevölkerungsgruppen zu Sicherheitsrisiken mutieren, ganze Lebensbereiche mit problematischen Rasterfahndungen überzogen werden - und wie nebenbei wird eine der ältesten rechtsstaatlichen Errungenschaften, die Unschuldsvermutung, aufgegeben, die Beweislast umgekehrt. Das sind Merkmale eines autoritären Sicherheitsstaates, in dem Rechtssicherheit und Vertrauen verloren gehen, Verunsicherung und Verängstigung gedeihen.

Es grenzt an Volksverdummung, wenn die herrschende Sicherheitspolitik so tut, als könnten die Bürger mit der drastischen Einschränkung von Bürgerrechten tatsächlich vor Terror geschützt werden. Weder in einer hochtechnisierten Risikogesellschaften noch in einer liberalen und offenen Demokratie kann es einen absoluten Schutz vor Gefahren und Gewalt geben. Das Streben nach totaler Sicherheit birgt vielmehr totalitäre Züge. Es kann zerstören, was es zu schützen vorgibt: die Freiheit. Könnte es also nicht sein, dass die sicherheitspolitischen Reaktionen auf die Terroranschläge weit größeren, nachhaltigeren Schaden an Demokratie und Freiheit anrichten, als es die Anschläge selbst vermochten? So gesehen ist der Einfluss von Osama bin Laden und Al Qaida auf die Gesetzgebung in diesem Lande schon beträchtlich. Doch der CDU/CSU reicht es immer noch nicht. Sie nutzt die massenmediale Aufbereitung des 11.9., schürt Ängste und Unsicherheit und droht mit einem dritten "Sicherheitspaket".

Es war der Liberale Burkhard Hirsch, der schon Otto Schilys "Sicherheitspaketen" insgesamt Respektlosigkeit "vor Würde und Privatheit seiner Bürger" bescheinigte sowie "totalitären Geist". Dem wäre eigentlich nichts hinzuzufügen. Außer die Forderung nach Rücknahme dieser Gesetze. Und die Frage, warum sich die Menschen in diesem Land - anders als in Zeiten der Volkszählung - das alles gefallen lassen, warum sich so wenig Widerstand regt. In Zeiten, in denen Menschenrechte mehr und mehr als Hindernis auf dem Weg zur "Sicherheit" begriffen werden, und zwar nicht nur in der Bundesrepublik, sondern europa- und weltweit, müssen wir weiterdenken und -planen - etwa in Richtung eines globalen Netzwerkes für Menschenrechte. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Verteidigung elementarer Freiheits- und Bürgerrechte - und damit auch um die Aktionsbedingungen von internationalen Protest- und Widerstandsbewegungen, die für eine andere, für eine gerechtere Welt kämpfen. Und nur eine solche Welt kann dem internationalen Terror den Nährboden entziehen.

Redebeitrag von Dr. Rolf Gössner auf der Kundgebung von Attac während des bundesweiten Aktionstages am 14. September 2002 in Köln. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist, parlamentarischer Berater und Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien: ›Big Brother‹ Co. - Der moderne Überwachungsstaat in der Informationsgesellschaft, Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2000

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