20 Stunden dauert die Fahrt mit dem Bus von Berlin nach Kiew. Irgendwo dazwischen hebt Irina den Blick und schaut mich an. „Sie reden über Krieg.“ Wir spitzen die Ohren. Vor wenigen Minuten ging die russische Telenovela auf den kleinen Bildschirmen über den Sitzen zu Ende. Es ging um eine junge Ballerina, die im Hause ihres viel älteren, einflussreichen Mäzens lebt, dann aber eine Affäre mit einem jungen gutaussehenden Kleinkriminellen beginnt. Nachdem ihr Gönner sie geschlagen und eingesperrt hat, flüchtet sie mit dem neuen Liebhaber, der sich zunehmend in illegale Machenschaften verstrickt. Schließlich engagiert der Geprellte einen Auftragskiller, der aber nicht zum Zuge kommt, weil der junge Mann vorher von Gangstern aus dem Kaukasus schwer verletzt wird. Die Ballerina kehrt daraufhin zu ihrem reichen, gewalttätigen Mann zurück, um berühmt zu werden.
Der Fernseher ist also aus und die Busreisenden werden gesprächig. „Sie haben einen Bescheid an meinen Sohn verschickt, dass er sich zur Waffe melden soll“, sagt die hagere blonde Frau vor uns. „Das kann gar nicht sein“, entgegnet ein Mann schräg gegenüber. „Ein Krieg würde uns überhaupt nichts nützen“, sagt die hagere Frau. „Ich habe Verwandte in Russland. Meine Mutter lässt mich nicht zu ihnen, und sie haben Angst, zu uns zu kommen.“ Die Reisebegleitung schaltet den Fernseher wieder ein. Zweimal wechselt sie die DVD, da war zuviel Militär im Vorspann.
Um 04:35 erreichen wir die Grenze zur Ukraine. Eine blonde Soldatin sammelt die Pässe ein, mustert alle genau. Die junge Frau hinter uns muss das Fahrzeug verlassen. Sie hat als einzige einen russischen Pass. Eine gute Stunde später ist sie immer noch nicht zurück. „Wieso kann sie nicht mit vernünftigen Papieren einreisen“, schimpft ein älterer Herr links vor uns.
Als sie schließlich wieder einsteigt, ist es beinahe hell draußen. „Es ist zur Zeit nicht leicht, russische Staatsbürgerin zu sein“, entschuldigt sie sich mehrmals. Die junge Frau ist Hebamme, gibt einen Lehrgang in Odessa. „Sie wollten Beweise, dass ich wirklich dorthin fahre“, sagt sie. Die Sonne geht auf. Wir schlafen wieder ein.
Überall Alltag
Kiew ist eine sehr europäische Stadt, etwa so groß wie Berlin. Im Zentrum rund um Maidan und das Goldene Tor gibt es zahlreiche Gründerzeithäuser, deren Zierrat und großzügige Balkons ihresgleichen suchen. Die Kirchen haben messingverkleidete Türmchen, die weithin leuchten. Der größere, äußere Teil der Stadt besteht dagegen aus Plattenbauten und anderen Hochhäusern. Hier wohnen wir, nahe der Schytomirska-Metrostation.
Irina wurde in Kiew geboren, wanderte als Kind mit den Eltern aus. Es war ihre Idee, hierherzukommen. Bevor die Lage vielleicht eskaliert. Ohne sie als Dolmetscherin wäre das hier nicht möglich.
Zur Metro geht es ein Stück bergauf, vorbei an Kiosken und vielen Blumenständen. Es riecht nach Holzfeuern, die in der Ferne brennen. Auf den Asphaltgehweg haben Kinder mit Kreide gemalt, „Ruhm der Ukraine“ ist zu lesen. Die Wohnblöcke sind großzügig über das hügelige Terrain verteilt, dazwischen Parks, breite Straßen und Brücken. Überall Alltag, der Himmel hoch und blau, darunter herausgeputzte Frauen in Absatzschuhen und alte Leutchen, etwas gebeugter und gezeichneter als bei uns. Die Metro fährt alle drei Minuten. Niemand spricht über Politik.
Der botanische Garten kostet keinen Eintritt, wenn man sagt, dass man zur Kirche will. So haben es Wowa, Sascha und Dima gemacht. Jetzt sitzen sie auf einer halbrunden Holzbank neben Blumenbeeten, natürlich wollten sie nicht zur Kirche, sondern rauchen. Sie sehen fertig aus, nach zu wenig Schlaf und schlechtem Essen in ihren abgewetzten Turnschuhen, könnten glatt drei Romanfiguren von Serhij Zhadan abgeben. Nun gut, so fertig sind sie nicht, trinken Bier statt Wodka. „Das mit dem Krieg ist nur Blabla", sagt Wowa, „auch mit dem ganzen Konflikt.“ Wowa und Sascha sind Ukrainer, Dima Russe. Ihre Sprache ist ein Mischmasch, Surschyk genannt. „Sie müssen auf jeden Fall schreiben, dass wir Russisch gesprochen haben“, sagt Dima. Er ist Musiker, hat eine Hiphop-Band namens Kiev Rasta Mafia. Ob wir Aggro Berlin kennen, fragt er, Sido findet er super. „Weißt Du, wir hätten ohnehin keine Chance in einem Krieg gegen Russland. Ich habe gedient, habe das System von innen gesehen. Russland ist viel zu mächtig.“ Er holt eine Schachtel Sobranie Cocktail hervor, das sind bunte Zigaretten.
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Sascha, Denis, Dima und Wowa im Park. Foto: Sophie Elmenthaler
In der Zwischenzeit ist Denis dazu gestoßen, in dreckigen Sporthosen und Soldatenhelm auf dem Rennrad. „Wir hassen die Russen“, sagt er, als er erfährt, dass wir Journalisten sind. „Wenn Du das noch einmal sagst, werde ich ganz anders mit Dir umgehen,“, droht Dima. Sie diskutieren eine Weile. „Er ist verrückt“, sagt Wowa. Denis ist DJ und Bauarbeiter, gehört zu einer Aktivistengruppe auf dem Maidan. „Sie sollten da unbedingt hingehen“, sagt er. Sascha ist da weniger enthusiastisch.„Was die Politiker machen, ist uns eigentlich egal“, sagt er. „Was zählt, sind die zwischenmenschlichen Beziehungen. Wir hoffen das Beste und rechnen mit dem Schlimmsten.“
Und mitten in der Stadt eine Festung
Der Maidan ist ein seltsamer Ort, wie eine Kriegsinsel mitten in der sonst friedlichen Stadt. Die khakifarbenen Zelte werden mit Holz beheizt, es riecht überall nach Rauch. Gestern Nacht gab es eine Schießerei, ein betrunkener Rechter hat drei Menschen angeschossen. Heute Mittag ist davon nichts mehr zu spüren. Olha arbeitet für Euromaidan PR, eine ehrenamtliche Initiative, die sich selbst als Außenministerium des Maidans versteht. Zehn Jahre lang hat sie in Deutschland gelebt und im ukrainischen Konsulat in Frankfurt am Main gearbeitet. Kaum kam sie zurück in die Ukraine, gingen die Proteste los.
Wir betreten den inneren Zirkel des Maidan. Direkt neben dem Eingang ist das Büro des rechten Sektors. „Warum distanziert sich der Maidan von den Rechten nicht?“, frage ich. Wo doch Aktionen wie die von letzter Nacht dem Ansehen der Protestierenden schadeten.
Olhas Antwort ist lang und kompliziert. Der Maidan habe nie ein zentrale Organisation gehabt, sagt sie. Die verschiedenen Gruppen seien nur lose miteinander verbunden, und der rechte Sektor habe sich überhaupt erst im Zuge des Euromaidan gebildet. Und da alle das gleiche Ziel gehabt hätten, habe man einander geduldet. Bis heute sei das so. Wir werden unterbrochen, eine junge Frau gesellt sich zu uns. Die Rechten seien gar nicht so schlimm, sagt sie, immerhin seien sie bereit, ihr Leben für die Ukraine zu opfern. „Warum sind sie dann hier und nicht an der Grenze zu Russland“, fragt Olha zurück. „Sie warten auf Anweisungen“, sagt die junge Frau. „Wozu brauchen sie das?“, sagt Olha. Unter den Himmlischen Hundert, die am 20. März umgekommen sind, sei kein einziger Rechter gewesen. Soviel zum Opfern. Ich frage die junge Frau, wie lange sie schon hier ist. Drei Tage, davor habe sie Entwicklungshilfe in Indonesien geleistet.
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Alltag auf dem Maidan. Foto: Irina Bondas
Die Menschen, die jetzt noch auf dem Maidan ausharren, haben mit politischen Parteien wenig zu tun. Es sind einfache Arbeiter aus den verschiedenen Regionen des Landes, Bergleute, Bauern. Im Zelt der Region Donezk im äußersten Osten des Landes sieht es aus wie in einem Widerstandskämpferlager, selbstgezimmerte Doppelstockbetten sind um einen Tisch angeordnet, auf dem Essen und Essensreste lose verteilt sind. Es riecht nach Zigarettenrauch und ungelüfteten Betten. Fenster gibt es nicht, die Zeltplanen färben das Tageslicht oliv-gelb. Ein paar Männer hocken oder liegen im Halbkreis um uns herum. Was sie hierhergeführt hat? „Ich will nicht, dass meine Kinder in so einem korrupten Land leben“, sagt Alexej, eine Zigarette in den Händen. Und warum sind sie noch hier? Zuhause hätten sie ohnehin keine Arbeit, sagen sie, die Oligarchen hätten alle Bergwerke aufgekauft und geschlossen. Außerdem müsse man die Übergangsregierung kontrollieren. „Russland hat uns den Krieg erklärt, und unsere Regierung betet, anstatt etwas dagegen zu tun“, sagt Dimitrij. Er sitzt in einem kleinen Sessel rechts von uns. „Das ist das Allerschlimmste.“
Politik im Wohnzimmer
Es ist später Nachmittag, das Café Living-Room in Podil ist gut besucht, wir finden kaum einen Platz. Der kleine Raum ist rot gestrichen, an der Decke hängen selbstgehäkelte Lampen. Podil war früher das Armenviertel, darunter viele jüdische Einwohner, Irinas Vater wurde hier geboren. Heute ist es ein alternatives Künstlerviertel, erinnert an Friedrichshain ende der neunziger Jahre.
Am Nebentisch sitzen Irina und Olesia, beide ende zwanzig. Sie sind für eine NGO tätig, die Fahrradfahren in Kiew populärer machen will. In Deutschland waren sie auch schon, das sei in Sachen Fahrradfahren ein Vorbild. Die beiden sind froh, dass nach den ganzen Ereignissen im März etwas Ruhe eingekehrt ist, trotz der Kriegsgefahr. „Ich würde mich nicht wundern, wenn die Russen hier morgen vor der Tür stünden“, sagt Olesia. Sie war während der letzten Monate ständig beim Maidan, hat die Protestierenden unterstützt. Ihre Freundin Irina war zunächst skeptisch, was sie davon halten sollte, half dann aber schließlich, Unterkünfte für angereiste Aktivisten zu organisieren. „Wir haben zwar nicht erreicht was wir wollten“, sagt sie, „aber immerhin haben wir den Glauben an die Menschheit wiederbekommen. Früher dachten alle, Ukrainer wären faul und träge. Jetzt glaube ich, dass wir alles schaffen können.“
Dass die Proteste direkt vom Westen unterstützt und finanziert wurden, glauben sie nicht. 2004 hätte das eher der Fall sein können, aber man habe aus der Orangenen Revolution gelernt. „Vielleicht werden Europa und die USA die Lage ausnutzen, aber organisiert haben sie es nicht“, sagt Olesia. Sie hat den Eindruck, dass die Berichterstattung in Deutschland stark von den wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland geprägt ist. „Ich habe einen Freund in Berlin, der uns manchmal erzählt, was in den Zeitungen steht“, sagt sie. „Da werden fast immer nur russische und keine ukrainischen Experten befragt.“ Dann müssen die Beiden los, wir bleiben noch auf ein Bier.
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Irina und Olesia im Living-Room. Foto: Sophie Elmenthaler
Der Bus zurück nach Berlin am nächsten Morgen fährt zwischen acht und halb neun, so genau weiß es keiner. Wir stehen am Busbahnhof Datschna mit süßem Krümelkaffee, die Sonne scheint, wie es sich gehört. Als wir nach Kiew kamen, dachten wir, hier sei schon fast der Bürgerkrieg ausgebrochen. Stattdessen war von einem Konflikt zwischen Russen und Ukrainern nichts zu spüren.
So mitten in der Woche ist der Bus nach Hause halb leer. Als wir zur Grenze nach Polen kommen, geht gerade die Sonne unter. Niemand spricht über Politik.
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