„Revolution ist erst mal nichts Positives“

Porträt Hans-Georg Lindenau betreibt seit über 25 Jahren einen Laden für Revolutionsbedarf in Berlin. Ist das heute nicht Folklore?
Ausgabe 42/2015

Wer vom Görlitzer Bahnhof in Berlin-Kreuzberg Richtung Norden durch die Manteuffelstraße läuft, trifft häufig auf Touristen. Falafelläden wechseln sich mit Spätverkaufsstellen, Designmöbelgeschäfte mit überteuerten Secondhandshops ab. Die meisten Häuser sind saniert, Brandmauern tragen Street-Art. Dann passiert man plötzlich einen grau verputzten Altbau mit abgeblätterten Fensterrahmen, an der Fassade hängen Jacken und Rucksäcke, mit Ketten gegen Diebstahl gesichert. Wie aus der Zeit gefallen wirkt das Haus, wie ein Fossil des alten, dreckigen Punker-Kreuzbergs.

Über dem Hochparterre prangt ein handgeschriebenes Schild: „M99 – Laden für Revolutionsbedarf“. Er gehört Hans-Georg Lindenau, und wer den Laden betritt, wird erst mal angepflaumt. „Bitte entspann mich, indem du dich zum Känguru machst mit deinem Rucksack“, sagt eine Stimme, noch bevor der dazugehörige Körper zu sehen ist. Känguru? Damit meint Lindenau, erklärt er später, dass der Rucksack vor dem Bauch getragen werden soll. Das zweiteilige Geschäft ist so vollgestellt, dass es schwierig ist, nicht irgendwo anzustoßen.

Wechselgeld im Hosenbein

Es ist ein unüberblickbares Sammelsurium sozialistischer und anarchistischer Klassiker, veganer Kochbücher und queerfeministischer Comics. Daneben zapatistischer Kaffee, vegane Schuhe und Antifa-Aufkleber. Dieser erste Teil des M99 geht nach rechts in eine Höhle aus Kleidungsstücken über, teils in Plastikboxen, teils hängen sie an Kleiderbügeln in einer windschiefen Regalkonstruktion. Am oberen Ende, da, wo der hintere Teil des Ladens beginnt, sitzt Lindenau in seinem Rollstuhl, ein graumelierter Mann Mitte 50 mit runden braunen Augen.

Er sitzt da wie in einem Biotop. Lindenau trägt Arbeitsschuhe und schwedische Schneehosen mit durchgehenden Reißverschlüssen, „so kann ich das Wechselgeld und andere wichtige Dinge in den Hosenbeinen aufbewahren“, sagt er. Im M99, das er seit über 25 Jahren betreibt, kann man alles kaufen, was man für den Widerstand gegen das System so gebrauchen könnte: Pfefferspray, Regenjacken, sogar gebrauchte Polizeihelme mit Visier.

Bevor Lindenau den Laden führte, hat er Häuser besetzt. Viele seiner ehemaligen Mitstreiter wohnen jetzt in sanierten Altbauten, sind arriviert, trinken Chianti zur französischen Käseplatte. Und obwohl das M99 kein besetztes Haus war, hält Lindenau die Fahne hoch. Er hat sich und sein Haus aus den 1980ern praktisch unverändert in 21. Jahrhundert gerettet.

Aber kann man im Jahr 2015 noch ernsthaft Revolutionsbedarf verkaufen? Oder ist das M99 längst Teil der Kreuzberger Folklore, die die Touristen so sehr schätzen? „Wie kann ich dir weiterhelfen?“, fragt Lindenau, wenn Kunden eintreten. Meist suchen sie „Refugees Welcome“-Pullover oder Parkas. Lindenau erklärt ihnen, wo sie die finden, und wie sie sich zu verhalten haben, um das Gewünschte zu bekommen. „Schau bitte da hinten in der Ecke nach der Box mit dem passenden Motiv“, sagt er, „und bring mir die Kiste hierher.“

Am Ende mit Gewalt

Häuserbesetzungen waren in den 1970er und 1980er Jahren bundesweit verbreitet. Die erste Hausbesetzung fand 1970 in Frankfurt an Main statt, doch zehn Jahre später kam Berlin zu seinem Ruf als Zentrum der Okkupierer. Das war der damaligen Stadtentwicklungspolitik geschuldet: Denn das „Flächensanierungskonzept“ sah vor, ganze Straßenzüge von Altbauten in einem Zug abzureißen und durch Neu-bauten wie die am Kott-busser Tor in Berlin-Kreuzberg zu ersetzen. Das bedeutete in der Praxis: langwierige Entmietungen ganzer Straßen. Viele Häuser standen leer, während Menschen gleichzeitig Woh-nungen suchten. Wegen dieser offenbaren Diskrepanz konnten viele Hausbesetzer mit der Solidarität der Bevölkerung rechnen. Bis sich die Szene ra-dikalisierte und auf Räumungen zunehmend mit Molotow-Cocktails reagierte. Es kam zu Schlachten wie der in der Mainzer Straße im November 1990. Die meisten Häuser wurden nach und nach legalisiert, also in reguläre Mietverhältnisse überführt, oder geräumt. Nur noch wenige der besetzten Häuser existieren bis heute (berlin-besetzt.de)

Lindenau, oder auch HG, wie er hier meist genannt wird, sucht dann in der Box nach der richtigen Größe, lässt den Kunden die Kiste zurückstellen, kassiert, plaudert ein bisschen. Manchmal müssen Kunden mit ihm zusammen im Keller nach der passenden Größe suchen, oder unter detaillierten Anweisungen in den oberen Regalen nachsehen. Manchmal steigt Lindenau auch selbst auf die Leiter. Der Mann sitzt zwar im Rollstuhl, aber ist nur halb querschnittsgelähmt und kann sich mit einiger Anstrengung fortbewegen.

Dann hangelt er sich im Rückwärtsgang am Interieur seines Geschäfts entlang die drei Stufen nach draußen herunter, wo sein zweiter Rollstuhl links neben der Tür steht. Vor dem Laden verschenkt er Kleiderspenden und Kleinkram in Drahtkisten. Kunden, die währenddessen den Laden betreten, pfeift Lindenau zurück. Wenn jemand klaut, kann er ihm ja nicht hinterherrennen.

Wer sich eine Weile vor dem Laden aufhält, stellt fest, dass der Anachronismus M99 Menschen hat, die zu ihm gehören. Alte, kaputte Punks über 50 in linkischer Haltung nehmen Klamotten mit. Neben ihnen wühlen ältere Damen mit hennarotem Haar und einer Menge Make-up in den Drahtkisten. Und dann sind da die Antifas, die erst mal eine rauchen, wenn Lindenau zu viele Kunden gleichzeitig abfertigen muss. Bei ihrem Anblick fragt man sich, was sich eigentlich mehr verändert hat: die Menschen oder die Häuser?

Das M99 wirkt wie ein Refugium für alle, die steigenden Mieten und neu verputzten Fassaden nicht folgen können oder wollen. Für alle, die Kapitalismus nicht nur falsch finden, sondern zumindest ab und zu auch was dagegen tun. Acht Hauseigentümer und mehrere Räumungsklagen hat Hans-Georg Lindenau bereits überlebt. Nie wurde irgendetwas an dem Gebäude verbessert, trotz permanenter Einsturzgefahr. Der grau verputzte Bau blieb, wie er war, mit seinen zehn Mietparteien, Außentoiletten und Aufklebern im Flur.

Der aktuelle Hausbesitzer will das Haus aber nun instand setzen. Auf vielen Etagen wurde bereits saniert. Das Wohnen soll teurer werden. Knapp über vier Euro pro Quadratmeter zahlt Lindenau zur Zeit, für ihn das Maximum. „Ich kämpfe gegen das Spekulantentum“, sagt er. Zu seinem Universum gehört neben dem Laden und dem einsturzgefährdeten Keller eine Wohnung im ersten Stock, in der Lindenau schon die verschiedensten Mitbewohner einquartiert hat. Er lebe nicht gern allein, sagt er, manchmal brauche er Hilfe, auch wenn er sich so eingerichtet hat, dass er trotz Rollstuhl fast unabhängig leben und arbeiten kann. Diese wechselnden WG-Kumpanen waren für den neuen Hauseigentümer der Anlass, ihm eine Räumungsklage wegen illegaler Untervermietung anzuhängen, in erster Instanz erfolgreich. Die Berufungsklage von Lindenau liegt noch unentschieden beim Landgericht. Wenn er scheitert, muss er raus. Aber er wird kämpfen. Aus Prinzip.

Hans-Georg Lindenau, der in 70ern aus Franken nach Berlin kam, hat den Laden Mitte der 1980er übernommen, von zwei Junkies, wie er sagt. Die autonome Szene von Kreuzberg war zerstritten, die Blütezeit der Hausbesetzungen langsam vorbei. Er war überall dabei, bei den Besetzungen in der Waldemarstraße 52 oder in der Dresdener Straße 16. „Wir waren militante Reformisten“, sagt er, getrieben von der Überzeugung, dass sie in einer Wohlstandsgesellschaft auf Kosten der anderen lebten. Die Besetzer wollten die Häuser vorm Abriss bewahren, sie als billigen Wohnraum erhalten. Weit über Kreuzberg hinaus wurde die Szene durch Rio Reiser und seine Band Ton Steine Scherben bekannt, deren Lieder heute linke Klassiker sind. Die verschiedenen Besetzergruppen hielten lange zusammen, beharrten auf ihrer sogenannten Nichtverhandlerposition, und wollten auch die Freilassung inhaftierter Mitstreiter zu erzwingen.

Das analoge Facebook

Mit der Zeit knickten immer mehr Leute ein, ließen sich auf Einzelverträge mit dem Bezirk oder den Eigentümern ein, die ihnen garantierten, als normale Mieter in den Häusern wohnen zu bleiben, für wenig Geld und mit den nötigen Sanierungsmaßnahmen. „Für mich war das letztlich ein Sieg des Egoismus über das Gemeinwohl“, sagt Lindenau. „Im Prinzip haben wir dem Staat damals geholfen, einige Missstände zu kitten und die Auswirkungen des ausbeuterischen Systems abzufedern.“ Es sei falsch gewesen, nur den Kiez im Blick zu haben. Schließlich kämpften Menschen auf der ganzen Welt gegen Unterdrückung.

Für Lindenau fiel die Zeit Ende der 80er mit einer persönlichen Krise zusammen, er litt unter Depressionen, fühlte sich gemobbt von anderen Linken und verfolgt von der Polizei. Irgendwann gab es einen Selbstmordversuch, oder einen Unfall, was genau passierte, sei bis heute nicht geklärt. Lindenau fiel vom Kirchturm am Lausitzer Platz, er war damals oft in der Kirche zur Entspannung. Er weiß nicht mehr, wie er da hochkam, sagt er. Offenbar hatte er ohne Erfolg um Hilfe gerufen, so erfuhr er später im Krankenhaus. „Ich wollte mich nicht wirklich umbringen“, sagt Lindenau. Er überlebte nur knapp, mit inneren Blutungen und langem Koma. Seitdem sitzt er im Rollstuhl. Aus der autonomen Szene hat er sich seit dem Unfall zurückgezogen, er geht nicht mehr auf Demos. Die Leute kommen jetzt zu ihm.

„Ich habe eine neue Form des politischen Engagements entwickelt“, sagt er, während er die Bewegungen der Kunden im Laden scannt. „Eine Art klandestine Technik.“ Statt Aktivist zu sein, fungiere er nun als eine Kommunikationsplattform. Eine Art analoges, antikapitalistisches Facebook. Lindenau will die Leute vernetzen, er debattiert mit ihnen, während sie sich „Nie wieder Deutschland“-Aufkleber oder schwarze Regenjacken kaufen. Er teile seine Kunden in drei Kategorien: „Traveller Konsum“, „Traveller Dialog“ und „Traveller NGO“. Traveller, also Reisender, weil für ihn alle Reisende sind. Die erste Gruppe wolle nur etwas kaufen, ihn und seinen Laden als Skurrilität konsumieren, die zweite sei offen für Gespräche und die dritte tauge zur Erweiterung des Netzwerks. NGO-Typen werden mit Informationen versorgt.

Will Lindenau immer noch eine Revolution anzetteln? „Na ja“, sagt er, „eine Revolution ist ja zunächst einmal nichts Positives. Es ist eine Umwälzung, die nötig ist, um etwas zu verändern. Wenn man eine Revolution anfängt, weiß man noch nicht, ob sie Erfolg hat.“ Er ist nicht mehr so idealistisch wie als Teenager im Westberlin der 70er Jahre. „Man muss seine Erwartungen anpassen“, sagt er und meint damit, dass man seinen Einfluss nicht überschätzen soll. Aber er will die Welt mit seinem Laden und indem er manchmal für das Portal indymedia schreibt, besser machen. Durch das Internet habe er heute einen viel besseren Überblick darüber, was global geschehe und welche Strategien erfolgreich seien.

Eine Gesellschaft ohne Kapital, ohne Unterdrückung irgendwelcher Minderheiten, ökologisch und anarchistisch – das wäre in seinem Sinne. Was wird passieren, wenn er den Laden, sein Biotop, sein Refugium, für das er schon so lange gekämpft hat, aufgeben muss? Lindenau zuckt mit den Schultern. Wahrscheinlich werde er sich bei seiner Mutter polizeilich melden und auf der Straße leben, sagt er, „bis ich genug Geld beisammen habe, um zu meiner Freundin nach Costa Rica zu ziehen“. Er könne Geld als antirassistischer Folklorekünstler auf der Straße verdienen. Man kann miterleben, wie laut und wie hoch er singen kann – wenn zu viele Kunden gleichzeitig auf ihn einreden.

Ob der Traum vom Leben in Costa Rica aufgeht, weiß er noch nicht. Er hat seine Freundin eine Weile nicht gesehen, wegen dieses Rechtsstreits den er am Hals hat. „Sie ist die einzige Person in meinem ganzen Leben, die wirklich mit mir umgehen kann“, sagt er. Sie wollen sich auf einem Baumhaus im Regenwald einrichten, das hätten sie irgendwann beschlossen, als sie noch zusammen durch die Welt gezogen sind. Ein neuer Lebensraum nach eigenen Regeln, ohne Ausbeutung.

Draußen ist es mittlerweile dunkel, ein Kunde mit Glatze und Bomberjacke betritt den Laden, sieht aus wie ein Skinhead. „Was suchst du denn“, fragt Lindenau. Ein T-Shirt, antwortet der junge Mann, mit der Aufschrift „Ich glaube eher an die Unschuld einer Hure als an die Gerechtigkeit der deutschen Justiz“. Lindenau sagt, so was würde er nicht anbieten, „das würde ja suggerieren, dass eine Hure etwas Schlechtes ist“. Dann verwickelt er den Kunden so lange in ein Unterhaltung, bis er herausgefunden hat, dass dieser nicht die falsche Gesinnung hat, sondern einfach nur kreisrunden Haarausfall. Er erzählt noch, dass der Laden Ende des Jahres wahrscheinlich geräumt werden soll. Vielleicht kommt der Kunde ja wieder. Und kämpft mit.

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