Süß ist nur Rache

Debatte Max Czollek und Sasha Marianna Salzmann sind ihre Rolle als Juden im deutschen Gedächtnistheater leid. Nun luden sie zum Desintegrationskongress
Ausgabe 19/2016

Die Farbe des Abends ist Schwarz. Schwarz sind die Jeans, die die Schüler tragen, schwarz sind zum Teil auch ihre Hemden, und schwarz ist vor allem das Kapitel der deutschen Geschichte, das sie anprangern“, liest Michal Bodemann dem hörbar amüsierten Publikum im Studio R des Maxim Gorki Theaters vor. Es handelt sich um eine von zahlreichen Programmankündigungen zum Gedenken an die Reichspogromnacht. „,Schwarze Milch der Frühe, wir trinken dich nachts, wir trinken dich mittags und morgens, wir trinken dich abends, wir trinken und trinken‘, sprechen die Schüler im Chor“, liest Bodemann weiter. „Hinter ihnen brennen Kerzen. Keine schwarzen, sondern rote mit heller Flamme.“ Ein Paradebeispiel für das, was der Soziologe als „Gedächtnistheater“ bezeichnet. Und einer der Gründe, warum Bodemann gerade selbst im Theater sitzt. Der Lyriker Max Czollek und die Autorin Sasha Marianna Salzmann haben drei Tage lang zum Desintegrationskongress geladen. Dabei geht es ihnen mitnichten um die Behauptung, Gedenken sei unwichtig, oder gar darum, dass es jetzt mal genug sei mit dem Reden über den Holocaust. Es geht, kurz gesagt, um Selbstbestimmung, um die Emanzipation von einem Verständnis jüdischer Identität, das Juden in Deutschland eine feste gesellschaftliche Rolle zuweist.

„Juden haben bestimmte Funktionen zu erfüllen, das ist, über Antisemitismus zu reden, über die Shoahgeschichte ihrer Familie und über Israel“, sagt Max Czollek. Er sitzt auf einem abgewetzten Sofa neben der Künstlergarderobe, schaut beim Reden fast immer zur Seite, wägt die Worte ab. Die Juden, sagt er, sollten den Deutschen die Absolution erteilen, die Versöhnungsgesten wohlwollend entgegennehmen. Die Beschränkung auf die Opferrolle sei aber insbesondere für junge Menschen keine Option. Czollek ist 1987 in Berlin geboren, Salzmann 1985 in Wolgograd. Sie wollen sich austauschen, wie eine oder mehrere jüdische Identitäten im 21. Jahrhundert in Deutschland aussehen könnten. „Alle sind eingeladen“, steht in der Ankündigung, „sogar Deutsche.“ Im Foyer können sie sich eine Kippa aus Pappe basteln, bedruckt mit dem Logo des Studio R und der Aufforderung: „Werden Sie Teil des Problems!“

Nicht runterschlucken

Mitreden sollen sie allerdings nicht. Postmigrantisches Theater, wie es am Gorki gepflegt wird, bedeutet eben auch, dass Minderheitenperspektiven zählen und nicht für ein mehrheitsgesellschaftliches Publikum pädagogisch aufbereitet werden.

Am späten Samstagabend treten Daniel Kahn & The Painted Bird zum musikalischen Rachefeldzug gegen die Nazis an, der damit endet, dass eine historische Ausgabe von Mein Kampf im Gorki-Garten verbrannt wird. Nicht besonders subtil, aber dramaturgisch konsequent. Das Publikum, in einem lockeren Halbkreis um die Feuerstelle versammelt, raucht, einige unterhalten sich im Flüsterton. Nur wenige wollen selbst eine Bücherseite ins Feuer werfen. Das Motiv der Rache ist den Veranstaltern wichtig, entsprechend lautet eines der Mottos des Kongresses „Jud sauer“. „Das verweist auf die Ebene des Inglorious Basterd, der die Kränkung der Shoah nicht einfach herunterschluckt“, sagt Czollek.

Er und Salzmann haben versucht, möglichst viele verschiedene Positionen und die heutige, seit 1945 in Deutschland einmalige Heterogenität der jüdischen Community abzubilden. Die Gäste sind ost- und westdeutsch sozialisiert, kommen aus der ehemaligen Sowjetunion, Israel, den USA und anderen Ländern, sind atheistisch bis neo-orthodox. Eines der Podien mit muslimischen Teilnehmern ist der Frage nach Allianzen gewidmet: Wie können Minderheiten gemeinsam für ihre Belange eintreten? Die Annahme, dass Juden und Muslime ein grundsätzliches Problem miteinander hätten, wird mehrfach widerlegt.

Die Frage nach Allianzen soll allerdings nicht dazu dienen, die Heterogenität zu überwinden oder eine universalistische Multi-Kulti-Utopie zu feiern. Das „Wir“, das in vielen Veranstaltungstiteln auftaucht, ist eine strategische Behauptung, die sich permanent selbst widerlegt. Die Podiengäste sind sich in den seltensten Fällen einig, und das ist gewollt. Streitbarkeit, wie man das hebräische Wort machloket übersetzen könnte, ist auch eine jüdische Tradition, wie die aus Erfurt angereiste Philosophin Hannah Peaceman erklärt: „Es geht darum, sich auseinanderzusetzen und dann aber verschiedene Positionen nebeneinander stehen zu lassen.“ Der Prozess der Aushandlung selbst sei als Ergebnis zu werten. Auch Czollek findet, dass es den Deutschen bis heute an der Fähigkeit mangelt, radikale Diversität auszuhalten. „Es gibt immer noch dieses Idealbild der westdeutschen, ethnisch gereinigten 50er-Jahre-Gesellschaft, die ja auf eine bestimmte Art und Weise dem Idealbild der Nazis entsprach.“

Sonntagabend endet der Kongress mit einer Party. Es ist schließlich der 8. Mai. „Wir haben den Krieg gewonnen“, steht auf einem weiteren Postkarten-Set, wer auch immer dieses Wir nun ist. Der Schauspieler Mehmet Yilmaz und Max Czollek legen gemeinsam auf. Allianzen bilden sich auf der Tanzfläche, lösen sich auf, es gibt mindestens so viele Stile wie Menschen, und mit fortschreitender Stunde desintegriert alles, das ist nun mal der Lauf der Dinge.

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