Auf einer kriegsgefährdeten Erde ...

Zweierlei Naivität Sebastian Hartmann inszeniert an der Berliner Volksbühne ein Stück "frei nach" Christa Wolfs "Der geteilte Himmel" als Landung im zeitlosen Nirgendwo

Im grünen Rollkragenpullover, stilecht in die graue Hose gestopft, tritt ein Mittdreißiger vor die überdimensionale Projektion des von glücklichen Kindern besungenen historischen Handschlags zwischen Faust und Geist, Unter- und Überbau und hebt an, das kurze Vorwort zu rezitieren, das Christa Wolf ihrer Erzählung Der geteilte Himmel von 1963 voranstellte. Mit der die zweieinhalb folgenden Stunden nichts zu tun haben werden, ungeachtet dieser ersten hoffnungsvollen Sekunden. Auch mit den beiden (!) Ländern, über die und denen sich einst nicht nur der Himmel teilte, werden sie nichts zu tun haben. Das zu erklären, ist am ehesten über einen Umweg möglich.

Im letzten Advent bescherte uns die Volksbühne Leander Haußmanns Version von Paul und Paula, eines anderen "DDR-Klassikers" und wie dieser ursprünglich nicht fürs Theater geschrieben. Wer dem Zufall nicht recht traut, möchtein solcher Koinzidenz eine Strategie des Hauses erkennen: Es ist ein weiteres Kapitel des Versuchs, DDR-Geschichte und damit die eigene - auch wenn das, zum Glück!, längst nicht mehr gleichbedeutend ist - auf- oder nach-, ihr zu- oder sich an ihr abzuarbeiten.

Wofür sich beide Vorlagen vor allem deshalb eignen, weil sie mit diesem Anspruch antreten, noch bevor sie ins Theater gelangen. Denn über die Schilderung des Schicksals ihrer Hauptfiguren hinaus - Paul und Paula hier, Manfred und Rita dort - ist beiden an der Reflexion der Bedingungen gelegen, unter denen dieses "Schicksal" zustande kommt. Die Bedingungen sind denkbar unterschiedlich, wenn auch nur durch zehn Jahre getrennt. Was nicht ohne Auswirkungen auf das "Schicksal" der Figuren bleiben kann.

In Ritas Leben, das auch noch mit neunzehn außer der Arbeitsnorm keinen Plan kennt, bricht die Liebe ein, dann die Stadt, schließlich ein Arbeitsunfall. Noch im Krankenbett sieht sie sich damit konfrontiert, dass sich die Welt um sie an einem Tag grundlegend geändert hat: Die Mauer teilt selbst den Himmel, in dem sie bislang schwebte. Am Boden angekommen, verliert sie nicht nur Manfred, der "rübermacht", sondern, gravierender, ihre Naivität. Elf Wochen dauert ihr Versuch, in "Westberlin" dem Zusammenhang von Sein und Bewusstsein zu entgehen - bis sie sich entschließt, dorthin zurückzukehren, wo die Tram, die sie allmorgendlich zur Arbeit bringt, auch nach dem "Sündenfall" unverdrossen der Endstation "Frohe Zukunft" entgegenstrebt.

Mit ähnlich hohem, utopisch hohem Anspruch an das Leben treten Paul und Paula noch 1973 an. Den veränderten historischen Bedingungen entsprechend, reicht ihre Glücksuche allerdings nicht weiter, als die Polizei erlaubt. Die Grenzen respektierend, die ihr Staat ihnen setzt, ziehen sie sich in Paulas Zweiraum-Altbauwohnung zurück und machen sich ihre eigene Vorstellungen vom Glück.

Beides ist heute, "auf einer kriegsgefährdeten Erde", wie die Ankündigung der Volksbühne zum Geteilten Himmel formuliert, in seiner Naivität ungefähr so schwer zu ertragen, wie es sich anhört. Oder wäre es, wenn sich beide Vorlagen darauf reduzieren ließen. Doch davor steht die Form, in der sie begegnen.

Für Plenzdorf meint das vor allem "Meine Person", jene namenlose Erzählerinstanz, durch deren Blick aus dem Fenster wir von den Liebenden vom Friedrichshain überhaupt erfahren. Paradoxerweise ist es jener subjektive Blick, der individuelles "Schicksal" objektiviert, weil es als geschildertes immer schon eine Reflexion über seine Bedingungen enthält. So erweist sich Paul und Paulas "Naivität" als Resultat eines künstlerischen Verfahrens, das aus der naiv anmutenden Suche nach individuellem Glück die Frage nach den Bedingungen seiner Möglichkeit werden lässt. Und diese Frage ist, erst recht auf "einer kriegsgefährdeten Erde", heute so aktuell wie 1973.

Um ihr nachzugehen und damit Paul und Paula für die Gegenwart neu zu entdecken, brauchte Haußmann nur (schwer genug!) eine Form zu finden, die dieser Gegenwart und dem Theater angemessen ist. Dafür hat er zunächst einmal die Konsequenz aus dem natürlichen Alterungsprozess gezogen und die beiden Protagonisten in den Ruhestand geschickt. "Von uns Alten ist keiner mehr am Leben", teilt uns die Inszenierung ungerührt mit. Anders die Utopie. Sie lebt in Gestalt des Indianers weiter, jenes alterslosen Kindes, das so atem- wie ahnungslos verfolgt, wie der absurde Wunsch nach einem Glück ohne Ende gegen eine Datsche eingetauscht wird.

Auch wenn sich in solcher Schilderung unschwer die Geschichte eines Staates und darin die Bedingungen individuellen "Schicksals" erkennen lassen - "Geschichte" erschöpft sich nicht darin. Damit auch die Inszenierung es nicht tut, lässt sie, mit einem Satz, einem Lied vom Band, Zeiten ununterscheidbar ineinander fließen und kreiert so jenes "Utopia", das weder an eine konkrete Zeit noch an einen konkreten Ort gebunden ist. Das Lebensgefühl einer Generation wird beschrieben - wo und wann immer sie aufgewachsen sein mag.

Zu ihr gehören auch Rita und Manfred. Zehn Jahre vor Paul und Paula lebend und Geschichte erlebend, träumen sie allerdings unter gänzlich anderen Bedingungen als die Nachgeborenen. Durften diese, um den Traum von einem Glück ohne Ende nicht aufzugeben, von ihrer "Naivität" nicht lassen, müssen jene sie aus demselben Grunde überwinden: Durch die Teilung nicht nur des Himmels ist individuelles "Schicksal" quasi über Nacht unauflöslich mit dem des Staates verbunden, dem man entweder sein Vertrauen ausspricht, sei´s auch im Rückzug in die Zweizimmer-Altbauwohnung - oder den man verlässt. Vor dieses Dilemma gestellt, beschließt Rita, sich als erwähltes "Subjekt" der Geschichte zu verhalten: das Schicksal nicht bloß zu erleiden, sondern anzunehmen, indem sie ihren privaten Wunsch nach Glück am gesellschaftlich Notwendigen misst.

Das alles taugte nicht einmal mehr, daran DDR-Geschichte, geschweige denn die eigene auf- oder nach-, ihr zu- oder sich an ihr abzuarbeiten, wäre da nicht die Form, in der es begegnet. Für Christa Wolf meint das vor allem die "plötzliche Unrast", wie es das Vorwort nennt. Sie gibt den Ton an, in der die gesamte Erzählung gehalten ist; mit ihr deren Figuren. Unter dem Schock der Ereignisse kommt keine Entscheidung, so wenig es den Konsequenzen anzumerken sein mag, ohne den Zweifel zustande - sei es, dass Rita, bar jeder Naivität, den Widerspruch an sich selbst erlebt, sei es, dass er ihr begegnet, weil vor ihren Augen Schicksale und Haltungen in Gestalt der Figuren aufeinanderprallen.

Paradoxerweise ist es also jene subjektiv empfundene "Unrast", die objektive Geschichte individualisiert. Indem zu jeder Entscheidung zugleich ihr mögliches Gegenteil benannt wird, werden die Bedingungen reflektiert, unter denen jene, die Geschichte gemacht haben, sich durchsetzen konnten. Derart wird aus der naiv anmutenden Suche nach kollektivem Glück die Frage nach den Bedingungen seiner Möglichkeit. Und diese Frage ist auch heute noch aktuell - zumal auf "einer kriegsbedrohten Erde", die das nicht erst seit dem 11. September 2001 ist.

Um dieser Frage nachzugehen und damit den Geteilten Himmel für die Gegenwart neu zu entdecken, brauchte Sebastian Hartmann nur (schwer genug!) eine Formzu finden, die dieser Gegenwart und dem Theater angemessen ist. Doch Hartmann fehlt es nicht nur an einer Frage, auch von Form ist nichts zu sehen. Von Theater umso mehr, besser dem, was der Regisseur, ein guter Beobachter anderer Arbeiten am selben Haus, dafür hält. Zum Beweis, dass er aufgepasst hat, bedient er sich ungeniert und mit erschreckender, weil ungebrochener Naivität aus dem großen, bunten Kasten, der das Theater für ihn zu sein scheint.

Darin erweisen sich er und sein Dramaturg, von dem die Textvorlage stammt, der Gegenwart sogar voraus. So sinnfrei ist wohl selten zuvor ein Text "dekonstruiert", was in diesem Falle meint, jeder Kohärenz beraubt worden. Selten zuvor ist das anti-bürgerliche Schauspiel so gründlich missverstanden worden, was in diesem Falle meint: wurde so unablässig gebrüllt, gerannt, gehampelt.

Doch wo Frank Castorf es versteht, aus brachial Zerlegtem, aus stimmlichen und körperlichen Exaltationen Neues, so noch nicht Gesehenes zu konstruieren, erschöpft sich Hartmanns "Kunst" im geistlosen Plagiat. Und wo Haußmann die Zeiten ineinander fließen lässt, bis Gegenwart und Vergangenheit verschmelzen und Zukunft denkbar wird, springt Hartmann durch die Zeiten, um nirgendwo zu landen. Seine Inszenierung kennt weder Zeit noch Ort - und darin ist sie immer schon veraltet und deplatziert.

Das alles wäre nur ärgerlich und damit nicht der Rede wert, geschähe es nicht mit der Haltung der Arroganz. Zum einen den Figuren gegenüber, von denen außer Naivität nichts übrig bleibt, woran leider - zweitens - auch die Schauspieler nichts zu ändern vermögen.

Zum dritten richtet sich diese Arroganz gegen das Publikum, wofür das Zitat dienen mag, das bereits mehrfach anklang: "Auf einer kriegsgefährdeten Erde ... kämpfen Rita und Manfred damals wie heute unter Einsatz ihres Lebens." Sowenig die Inszenierung vom Leben weiß, sowenig auch von dessen Gefährdungen - gleich unter welchem Himmel. Dass sie anderes nicht nur behauptet, sondern zugleich in Anspruch nimmt, es für alle zu tun, macht sie unerträglich.

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