Im 41. Jahr seines Bestehens wartet das Berliner Theatertreffen mit einer Neuerung auf: Erstmals trägt es ein Motto, das die diesjährige Leistungsschau des deutschsprachigen Theaters als "Letzte Tankstelle vor der Wüste" offeriert.
Wie die Welt, auf die sie anspielt, ist auch die Metapher zumindest schief geraten, denn wer den Zuschauerraum betritt, hat den weißen Sand bereits passiert, der im Foyer aufgeschüttet wurde. Wo mit der "Tankstelle" der Sektausschank vor dem Haus der Berliner Festspiele gemeint sein muss, stellt sich die Frage, was das Publikum auf der Bühne erwartet: "Den Park", wie der erste Akt von Onkel Wanja vorgibt? Drei Dutzend Leichen aus Heiner Müllers "Shakespearekommentar" Anatomie Titus Fall of Rome?
Nicht einmal ein Freilufttheater käme auf die Idee, Tschechows Ortsangabe beim Wort zu nehmen. Doch ist es "bemerkenswert", wie das Kriterium für die Einladung zum Theatertreffen auch im 41. Jahr lautet, wenn der Titus der Münchner Kammerspiele ohne Blut auskommt? Die Inszenierung von Johan Simons holt das Parkett auf die Bühne: Fünf Stuhlreihen "oben" zitieren die Bestuhlung "unten", und die Schauspieler halten zeitgleich mit dem Publikum Einzug, über dem das Licht ebenso wenig erlischt wie über der Szene (Bert Neumann). Am ungeteilten Himmel flackern die Farbpunkte einer Discokugel, und im Hintergrund flimmern Videobilder, die live vom Vorplatz des Theaters (daheim die noble Maximilianstraße) übertragen werden.
Das Spiel um Macht und Mord beginnt, wenn sich der ruhmreiche Feldherr Titus (André Jung) erhebt, um als müder Krieger auf den Mittelplatz der ersten Reihe zu sinken. Seiner räumlichen Isolation entspricht die Sprache, mit der er vom drohenden Untergang Roms berichtet. Ans Microport gelangt Müllers Blankvers, als sei´s ein Text von Tschechow, als private Leidensgeschichte, die sich auch in Titus´ Körperhaltung ausdrückt.
Ähnlich "betroffen" reagieren die Insassen der hinteren Reihen auf den Kreislauf der Gewalt, der mit den Eltern auch die Kinder erfasst. Als Blutzoll für Titus´ gefallene Söhne muss die Gotenkönigin Tamora (Marion Breckwoldt) ihren Ältesten opfern, wofür sie sich zwar bitter, doch ohne Blutvergießen rächt. Folgsam erheben sich die todgeweihten Mörder von den Klappsitzen, um auf anderen den Einzug der "Goten" zu erwarten, die per Video bereits "zugeschaltet" sind: Ein folkloristisch gekleidetes Paar (Mira Partecke, Martin Butzke), das sich den Weg durchs "untere" Parkett nicht erst bahnen muss, weil durch die Bestuhlung eine Schneise verläuft.
Der Zeigefinger erhebt sich nicht allein symbolisch, wenn das "obere" Parkett hydraulisch gekippt wird. Während die Gesellschaft Roms dem Abgrund entgegensieht, lauscht die Berliner einem Beatles-Hit. Der Schrecken findet im Kopf statt, begründet der Regisseur den Verzicht auf Theaterblut. Doch erschrecken kann an diesem Abend allenfalls, dass mit der Einladung des Münchner Titus zum Theatertreffen dieser Form der Kanonisierung Heiner Müllers Tür und Tor geöffnet sind.
Die hat Onkel Wanja lange hinter sich. Als Der Waldschrat 1889 entstand, hat Tschechow mit dem Titel auch den Fokus verändert: vom Landarzt Astrow auf Iwan Woinizki, der mit seiner Nichte Sonja und seiner Mutter das Gut verwaltet, auf dem sich der alternde Professor Serebrjakow und dessen junge Frau Jelena einquartieren und die gewohnte Ordnung durcheinander bringen.
Mit der es so eine Sache ist, denn Glück ist darin nicht vorgesehen und Zufriedenheit nur, soweit der trotz "Park" und "26 riesigen Zimmern" karge Alltag es erlaubt: Schwerer als der ökonomische Druck wiegt, dass man "in diesem Labyrinth nie jemanden findet" - zuallerletzt sich selbst. Sonja (Anna Schudt) wähnt sich hässlich, Wanja (Rainer Bock) glaubt, in Jelena (Sunnyi Melles) verliebt zu sein, die sich zu Astrow (Stefan Hunstein) hingezogen fühlt, der nichts von Sonjas Liebe ahnt, wenn er über die "Natur" schwadroniert, ohne von der "Kunst", für die Serebrjakow (Thomas Holtzmann) bis zur Verrentung zuständig war, einen Begriff zu haben.
Der "Schwermut", für die Tschechows Figuren gemeinhin einstehen, versucht das Münchner Residenztheater durch Flucht ins Lustspiel zu entkommen. Doch mit dem Fauteuil hat Barbara Frey nicht nur die falsche Schwere aus dem weiß getünchten Einheitsraum (Bettina Meyer) vertrieben. So leicht, wie die in die Wände eingelassenen Sitze hoch und runterklappen, geraten der Regie die Konflikte der und zwischen den Figuren, weil die Konzentration auf deren "Entstaubung" einhergeht mit der Vernachlässigung der Welt, in der sie leben: Nicht einmal für eine Schachtel Zigaretten ist dort Platz, die Sonja deshalb im Rockbund verstauen muss. Ein Versprecher Hunsteins schafft die Balance, die der Inszenierung fehlt. Indem er statt "Wild" "Flüsse" aussterben lässt, löst er im Ensemble genau dann ein Lachen aus, wenn es sich laut "Kanon" eigentlich verbietet.
Nicht nur im Motto des Theatertreffens also ist die Balance zwischen der "Wüste" und der "Tankstelle", der Welt und dem Blick, den das Theater auf sie wirft, zumindest schief geraten. Doch nicht jedes Gastspiel lässt sich auf die Vorgabe ein, Ödnis und Oase als Gegensatz zu begreifen. Was für den Welt-Blick nicht ohne Folgen bleiben kann, mit dem es sein Publikum konfrontiert.
We are camera, letzter Teil der Harvest-Trilogie von Fritz Kater alias Armin Petras, stammt aus der Hamburger Gaußstraße, wo das Thalia Theater eine Dependance betreibt. Das Gastspiel fand in den Räumen statt, die einst die legendäre Berliner Schaubühne beherbergten.
Als Wasserstandsmeldungen deutscher Flüsse tarnt Ernst (Peter Moltzen) seine Berichte nach Ost-Berlin, für das der B-Waffen-Forscher und Trinker spioniert. Ende 1969 sieht er sich gezwungen, die BRD zu verlassen und mitsamt Familie über Finnland in die DDR zu fliehen. Erst in der Silvesternacht gesteht er seiner Frau Paula (Natali Seelig), dass die Reise weder nach Indien noch zurück nach Hause führen wird.
Um den Einschnitt zu begreifen, sind Mirco (Hans Löw) und Sonja (Fritzi Haberlandt) noch zu jung. Mehr plagt Sonja der Appetit auf Leberwurst - die selbstredend "Bio" ist, wenn die Hochschwangere ihren Vater im Gefängnis besucht. "Es gibt ein anderes Deutschland." So hatte Ernst Paula den Umzug schmackhaft machen wollen. Dass sie davon nichts wusste, erspart ihm nach der Wende nicht die U-Haft.
"Harvest" heißt "Ernte", und dass der Autor/Regisseur als Kind mit seinen Eltern von West nach Ost zog, verführt dazu, den Ertrag des Jasonmaterials biografisch zu nehmen - was hieße, wie Haberlandt nur Schal und Mütze ablegen und die Sprache ändern zu müssen, um von der Dreijährigen zum Teenie zu mutieren, das ihr Zimmer im Plattenbau mit Flokati ausstaffiert.
Den Raum- und Zeitsprüngen der Vorlage entspricht die Spielfläche. Durch zwei Emporen seitlich begrenzt, genügen wenige Gegenstände wie Kleiderständer, Tisch und Windmaschine, um Situationen anzuspielen, die so jäh umschlagen wie die multiple Persönlichkeit (Stephan Johannes Richter), die als Kameramann, Agent und Liebhaber fungiert. Was im Leben ausgeschlossen ist, scheitert auf der Bühne allenfalls an Minusgraden: Das Silvester-Mahl hat Mirco in der Invalidenstraße gekauft, den Jahreswechsel aber will Sonja schon Anfang der Achtziger auf dem Teufelsberg erleben - wenige Kilometer entfernt, doch in einer anderen Welt.
"Fliegen lernen" ist die Szene überschrieben, die in der Gegenwart spielt. Wenn die anbricht, liegt Ernst bereits im Grab: die Leber. "Kanner in fünf Jahren wegschmeißen", orakelt er im letzten Bild über die Videokamera, die Mirco vom ersten Westgeld erstanden hat. "In drei", verbessert Sonja ihn lachend und zitiert damit das Anfangsalter der Geschwister. Anders als ihr Bruder hat sie den Einschnitt diesmal schnell begriffen. Aber der hatte es schon einmal schwerer. Wer außer ihm hieß im Westen Mirco?
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