Die Regeln des Spiels

Wo Politik war, soll Kunst werden Was die Debatten um Fußballtrainer und Theaterintendanten gemeinsam haben

Auch wenn Vergleiche hinken: Fußball und Theater legen nicht nur beide eine Sommerpause ein, sie kommen auch darin überein, dass sie ein Doppelleben führen. Nicht erst seit der Europameisterschaft ist es schlechte Gewohnheit, den Fußball als Modell für die gesellschaftliche Analyse zu begreifen - für das Theater ein alter Hut. Der weit verbreitete Irrtum ist am ehesten damit zu erklären, dass es in beiden Fällen an Begriffsschärfe fehlt. Denn ob der Rasen oder die Bretter die Welt bedeuten: Hier wie dort folgt sie Spiel-Regeln, die jenseits der eng gesteckten Grenzen ihre Gültigkeit verlieren. Die gleichnamigen Institutionen hingegen schalten und walten nach "irdischen" Regeln.

Die wichtigste Lehre, die Franz Beckenbauer aus der schleppenden Arbeit der Findungskommission gezogen hat, war die, nie wieder im Juli nach einem Bundestrainer zu suchen: Mitten in der Sommerpause sind die Weichen für die neue Saison längst gestellt, und sämtliche Wunschkandidaten "haben Vertrag", wie es im Fußballerdeutsch heißt. Aus dieser Logik heraus ergeben die Absagen Ottmar Hitzfelds und Otto Rehagels - der eine vor Wochen, der andere vor Jahren als Trainer der Münchner Bayern gefeuert - einen Sinn, der mehr über den Zustand des Verbandes als den der Mannschaft verrät: Die Ende Juli installierte Dreierkette verlagert das Machtzentrum von Frankfurt/Main und München zurück nach Stuttgart, wo neben dem neuen Trainergespann Klinsmann/Löw der unlängst in seiner Allmacht beschnittene Präsident Mayer-Vorfelder beheimatet ist. Dass der ehemalige Fußballer Klinsmann kaum als "Wunschkandidat" gelten kann, weil er nicht die geringste Erfahrung als Trainer hat, nährt den Verdacht, dass es sich bei der gefundenen Lösung - späterer sportlicher Erfolg nicht ausgeschlossen - um eine politische Lösung handelt.

Dieser Verdacht beschleicht derzeit auch manchen in Berlin, wo der Kultursenator Thomas Flierl (PDS) rechtzeitig zur Sommerpause das Intendantenkarussell angeworfen hat. Volker Hesse, vor drei Jahren Wunschkandidat als Leiter des Maxim-Gorki-Theaters, teilte er vorzeitig mit, dass dessen Vertrag nicht über 2006 hinaus verlängert wird. Bernd Wilms, Vorgänger Hesses am Gorki und seit 2001 Intendant des Deutschen Theaters, wird Ende August erfahren, ob er nach 2006 weiterarbeiten darf.

Dass leitende Angestellte von Zeit zu Zeit ausgetauscht werden, ist im Theater so normal wie im Fußball. Im Theater jedoch mangelt es an jenen objektiven Kriterien, für die im Fußball der Tabellenplatz steht: Ein Aus in der Vorrunde oder der drohende Abstieg legitimieren Rücktritt wie Entlassung, für die sich gleichermaßen die Umschreibung "Trennung im gegenseitigen Einvernehmen" eingebürgert hat. Davon kann im Falle der beiden Berliner Intendanten nicht die Rede sein: Hesse wollte und Wilms würde die begonnene Arbeit gern fortführen, und der Zuspruch des Publikums - kaum und doch am ehesten dem Tabellenplatz vergleichbar - gibt dem Senator keine Kriterien an die Hand, ihnen diese Möglichkeit zu versagen: Beide Häuser haben eine blendende Auslastung und zudem wahre Kassenfüller wie das Bankenstück oder Emilia Galotti im Programm, die regelmäßig ausverkauft sind.

Nun ist der Senator in der angenehmen Lage, Gründe für die Trennung nicht angeben zu müssen. Schließlich sollen keine bestehenden Verträge gekündigt, sondern auslaufende nicht verlängert werden. Anders verhielt es sich zu Beginn der Sommerpause tief im Westen der Republik, wo die Ruhrfestspiele Recklinghausen den "Wunschkandidaten" Frank Castorf, im Hauptberuf Intendant der (Ost-)Berliner Volksbühne, nach nur einer Spielzeit als künstlerischer Leiter, entließen. Da eine Kündigung nicht nur in gewerblichen Berufen objektive Gründe braucht, beriefen sich die Festspiele auf die schlechte Auslastung von nur 35 Prozent. Zur der gewiss enttäuschenden Quote und den entsprechenden finanziellen Einbußen beigetragen haben jedoch nicht nur "Fehler bei der Vermarktung" seitens der Intendanz, sondern auch seitens des Veranstalters selbst. Zu denen gehört der Deutsche Gewerkschaftsbund, aus dessen Mitgliedern sich das Publikum auf dem "Grünen Hügel" seit fast 60 Jahren maßgeblich speist. Ob der Tatbestand, dass der DGB in diesem Jahr 65 Prozent weniger Karten abnahm, einem "Boykott" gleichkommt, wie Castorf wähnte, sei ebenso dahingestellt wie die Frage, ob das "Experiment der Neuausrichtung" der Ruhrfestspiele mit einem neuen neuen Leiter gelingt. Fest steht, dass sie deutlich teurer wird. Schließlich hat Castorf bis 2007 "Vertrag".

Immerhin liefert die offizielle Begründung für die Kündigung einen Hinweis, dem nachzugehen sich auch in Berlin lohnt: Ging die Neuausrichtung des Theaters den Verantwortlichen in Recklinghausen zu weit, weil sie das angestammte Publikum nicht "mitnahm", geht sie dem Berliner Senator nicht weit genug, obwohl das Publikum sie offensichtlich mitträgt. Dasselbe Argument wird unterschiedlich in Anschlag gebracht, um mittels der Personalpolitik künstlerische Inhalte zu beeinflussen. Was an der Ruhr nur durch die Blume gesagt wird, wird an der Spree offen formuliert. Davon überzeugt, dass Kulturpolitik "wieder inhaltliche Debatten und solche um Qualität" führen muss, entwickelt der Senator "ästhetische Perspektiven" für das Hauptstadt-Theater, die sich mit den jetzigen Intendanten des Gorki und des Deutschen Theaters schwerlich realisieren ließen.

Von der Schelte des Senators ausdrücklich ausgenommen sind die Volksbühne Frank Castorfs und das letzte große subventionierte Theater West-Berlins, die Schaubühne. Deren ehemaliger Leiter Peter Stein meldete sich in der Sommerpause mit einem Interview in der Zeit zu Wort. Befragt aus Anlass des 100. Todestags von Anton Tschechow, mit dessen Stücken er in den Achtzigern seine letzten großen Erfolge inszenierte, holte er zu einem Rundumschlag gegen die jüngeren Regie-Kollegen aus. Die Werte der Aufklärung und des Humanismus propagierend, bezichtigte er namentlich Frank Castorf, mit ihm sämtliche "Burschen, die sich nur mit Drogenabhängigen, Pennern und Halbverrückten beschäftigen und selber Armani-Hosen kaufen", der Verlogenheit, weil ihr "hysterisches Aufgeregtheitstheater" jeglichen Kontakt zur Gesellschaft verloren habe.

Jene, die gemeint waren, entgingen dem Bannstrahl nur, weil sie sich zur selben Zeit in Avignon aufhielten. Ein Jahr, nachdem es wegen eines Boykotts der Schauspieler und Bühnenarbeiter ausfallen musste - die Gründe heißen übersetzt Hartz IV und Arbeitslosengeld 2 -, wartete das "größte Festival der Welt" mit einer revolutionären Neuerung auf. Um sich nach Europa zu öffnen, kürt die ehemalige Leistungsschau des französischen Theaters fortan jedes Jahr einen ausländischen Gast-Direktor, der eine repräsentative Auswahl aus seinem Heimatland einlädt.

Zum Auftakt fiel die Ehre Thomas Ostermeier zu, im Hauptberuf Steins Nachfolger als Leiter der Schaubühne, der neben Inszenierungen des eigenen Hauses vor allem solche im Gepäck hatte, die an der Volksbühne beheimatet sind. Auch wenn das Theaterland Deutschland mithin fast ausschließlich durch seine Hauptstadt vertreten war, ist die Auswahl durchaus "repräsentativ": Inszenierungen wie Ostermeiers Nora oder Castorfs Kokain kommen allenfalls in Äußerlichkeiten überein, die Peter Stein unter "Hysterie und Aufgeregtheit" fasst. In dem jedoch, was sie im Inneren bewegt, sind die Arbeiten weiter voneinander entfernt als die Deutsche Fußballnationalmannschaft vom Titel eines Europameisters.

Dass ein einheitlicher Lautstärkepegel nicht für Einheitsästhetik steht, wusste die Kritik, als beide Inszenierungen in Berlin Premiere hatten, durchaus zu würdigen. Während Nora mit einer Einladung zum Theatertreffen geadelt wurde, musste sich Kokain manche Häme gefallen lassen. Umso befremdlicher mutet es an, wenn der gemeinsame sommerliche Auftritt in Avignon in der deutschen Presse ein Echo erzeugt, aus dem Unterschiede weitestgehend getilgt sind: Begünstigt durch die zeitliche und räumliche Entfernung, geraten beide plötzlich zu uniformen "Berserkern", die mit ihrem "Schreien, Lallen und Stampfen" nach dem deutschen Theater nun Europa infizieren.

Sich solchen Verfallserscheinungen entgegenzustemmen hat sich ein Film auf die Fahnen geschrieben, der in unseren Kinos zum Sommerhit avancierte. Mux, fragwürdiger Held von Muxmäuschenstill, ist von dem Verlangen beseelt, der Gesellschaft jene Werte zurückzugeben, die er verloren wähnt. Die Mittel, die er dafür einsetzt, können sich zwar nicht an den moralischen Maßstäben messen lassen, mit denen er das Verhalten anderer misst, gleichwohl ist der Film bestrebt, seine Hauptfigur so in der Waage zu halten, dass die Motive für ihren Disziplinierungsfeldzug ehrenhaft bleiben.

Als "Mux" jedoch sein "Mäuschen" - eine junge Frau, die er zum Reinheitsideal erkoren hat - zur Strafe für Verfehlungen erschießt, wird es urplötzlich "still". In finsterster protestantischer Tradition zieht der Film seine Hauptfigur sogleich zur Rechenschaft und lässt Mux am Ende von einem Verkehrsrowdy überfahren, den er zu richtigem Sozialverhalten im Wortsinn anhalten wollte. Indem er Mux - zur Befriedigung der Zuschauer - einer höheren Moral opfert, schlüpft der Film selbst in die Rolle der moralischen Überinstanz - was letztlich noch die "ehrenhaftesten" Motive des Films disqualifiziert.

Selbst wenn Vergleiche hinken: Vielleicht ist es kein Zufall, dass gerade dieser Film der Kinohit eines Sommers ist, in dem das "Loch", das sonst die Jahreszeit bestimmt, mit Nachrichten gefüllt ist, die aufhorchen lassen. Was, wenn der Film nicht der Einzige ist, der glaubt, mit falschen Mitteln Richtiges erreichen zu können? Immerhin hat er den Vorzug, dass er seinen Irrtum zu erkennen gibt. Eingeschränkt gilt das auch für den DFB und dessen politische Lösung für ein "sportliches" Problem. Für das Theater bleibt zu hoffen, dass die "inhaltliche Debatte" nach der Sommerpause dort geführt wird, wo sie hingehört: auf der Bühne.


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