Wo Rauch ist, ist auch Feuer, weiß der Volksmund. Doch wie von fast jeder Regel gibt es auch von dieser Ausnahmen, die statt des Notrufs 113 widersprüchliche Gefühle auslösen. Bei der Papstwahl etwa verkündet weißer Rauch, dass sich das Kardinals-Konzil auf einen neuen Oberhirten geeinigt hat. In Deutschland war die Begeisterung vor einem Jahr besonders groß, weil mit Benedikt XVI. wir alle Papst geworden sind. Fast alle, denn da Joseph Ratzinger ein strammer Vertreter des Althergebrachten ist, mischte sich unter den allgemeinen Jubel auch Kritik.
Im Mai stieg wieder weißer Rauch auf, doch diesmal nicht in Rom, sondern in Berlin, und statt aus einem Schornstein durch die Ritzen einer Bretterbude. Grund, die Feuerwehr zu rufen, gab es trotzdem nicht, denn auch dieses Fanal verkündete eine Wahl. An der hing zwar nicht das Seelenheil der halben Welt, doch auf ein geteiltes Echo stieß auch sie.
Am letzten Wochenende endete in Berlin das 43. Theatertreffen, und wie seit einigen Jahren Brauch, stand es unter einem Motto. Das lautete "Konzil" und war, wie die Bretterbude vor dem Veranstaltungsort, nicht ganz ernst gemeint. Doch selbst nach Abzug der Ironie bleibt für den Vergleich mit Rom noch einige Substanz. Die steckt vor allem in der doppelten Stellvertreterfunktion der Wahl. Denn was in Rom die Kardinäle, ist beim Theatertreffen eine Jury, und was dort der Papst, ist hier die Einladung nach Berlin. Und wie immer, wenn wenige im Namen vieler sprechen, gibt es Streit.
Der ist so alt wie das Verfahren, laut dem sieben Theaterkritiker ein Jahr lang den deutschsprachigen Raum bereisen, um zehn bemerkenswerte Inszenierungen auszuwählen. In diesem Jahr fiel die Wahl sogar auf elf. Eine konnte aus Termingründen nicht gezeigt werden, da waren es wieder zehn. Die bildeten einen bunten Strauß aus Tanz- und Dokumentartheater, uralten und ganz neuen Stücken, Metropolen und Provinz. Einiges davon ist an dieser Stelle bereits besprochen worden, manches auch konträr. Der Jury ihre Auswahl vorzuhalten wäre müßig. Aber vielleicht lässt sie sich ja verstehen.
Erklärungsbedürftig ist zum Beispiel, was dokumentarische Inszenierung meint, als die Wallenstein aus Mannheim apostrophiert war. Dort hat die Gruppe Rimini Protokoll Motive aus Schillers Opus mit Biografien normaler Menschen konfrontiert, die mit entwaffnender Naivität aus ihrem Privatleben erzählen. Diese subjektiven Erlebnisfetzen wurden von der Regie jedoch so montiert, dass statt vieler Lebensläufe ein Geschichtsbild zur Sprache kam, das Politik und Bratkartoffeln, Fußball und Vietnam, KZ und Spaghetti mit Tomatensauce vermengte. Wenn diese Inszenierung etwas dokumentierte, dann die penetrante Hybris, die das Leben unbedarfter Laien zum Material und das Theater zum Panoptikum erklärt.
Normale Menschen beschreibt auch Tschechow, der mit gleich drei Stücken vertreten war. Liegt es an der Aktualität des Themas Stillstand, wie die Jury meint? Das würde die Einladung von Dunkel lockende Welt erklären. Wobei das Drei-Personen-Stück von Händl Klaus nicht von Stillstand handelt, sondern Stillstand ist, weil es weder Handlung noch Entwicklung kennt. Und bemerkenswert an Sebastian Nüblings Inszenierung von den Münchner Kammerspielen ist, dass sie das Nichts an Text als Nichts auf die Bühne bringt.
Die Jury pries die schöne Oberfläche des Abends, unter der ein Abgrund lauere. Ersteres muss die polierte Holzwand meinen, die Teil einer Wohnung sein sollte (Bühne: Muriel Gerstner). Ein Abgrund lauerte wenn, dann unterm Teppichboden, unter den Jochen Noch als Vermieter kroch. Nicht nur in dieser Szene erwies sich der avisierte Slapstick als platter Ulk, mit dem der Regisseur seine Ratlosigkeit kaschierte. Dass am Ende Wut die Langeweile überwog, lag daran, dass neben Gundi Ellert auch die Schauspielerin des Jahres Wiebke Puls zu Bossa-Nova-Rhythmen sinnfreie Regieeinfälle ausführen musste.
An Einfällen mangelte es auch Karin Henkel nicht. In ihrem Stuttgarter Platonow legte sie noch eins drauf und bediente sich großzügig aus Arbeiten älterer Regie-Kollegen. Aus dem Zusammenhang gerissen, verpufften die Zitate jedoch genauso wie die Windmaschine mitten auf der Bühne (Stefan Mayer). Die wurde mehrfach angeworfen, ohne je etwas zu bewirken. Auf welche Wirkung der Abend angelegt war, verriet das weiße Halbrund einer stilisierten Hauswand, in die statt Fenster Neonröhren eingelassen waren. Sie illuminierten eine Innenschau der Figuren, die durch das Spiel der Darsteller psychologisch glaubhaft werden sollten. Doch was beim späten Tschechow schlechter Brauch ist, muss an dem monströsen Frühwerk scheitern, weil es eher menschliche Zustände als Charaktere beschreibt. Und diesen Widerspruch löste auch übertriebener Bewegungsdrang nicht auf, von dem die Drehbühne ebenso befallen war wie Felix Goeser in der Titelrolle und seine 13 unterschiedlich begabten Kolleginnen und Kollegen.
Mit Iwanow von der Berliner Volksbühne war auch eines der in Platonow zitierten Originale eingeladen. Dimiter Gotscheff hatte die Geschichte des seelisch und finanziell verarmten Grundbesitzers so inszeniert, dass von Tschechows trauriger Komödie nur Tristesse blieb. Dafür bediente er sich eines so einfachen wie wirksamen Mittels: Kurz nach Beginn senkte sich dichter Nebel über die gähnend leere Bühne (Katrin Brack), und so schemenhaft wie die Schauspieler tauchten auch die Figuren aus ihm auf. Erkennbar, weil häufig an der Rampe, waren nur Iwanow (Samuel Finzi) sowie sein Verwalter und emotionaler Gegenpol Borkin (Milan Peschel). Alle anderen waren, auch wenn sie oft als Gruppe zusammenstanden, von einer tiefen Einsamkeit befallen, unter der auch Iwanows Frau Anna (Almut Zilcher) mehr als an der Schwindsucht litt. Und selbst ein Lebemann wie Lebedew (Wolfram Koch) stemmte sich mit seiner Wampe vergebens dagegen an.
Plausibel war das trübe Gesellschaftsbild durchaus, doch hatte es auch eine Schwäche: Bevor der Nebel kam, nahm ein kurzes Vorspiel den Abend vorweg, leider auch dessen Deutung. Denn Iwanow selbst löste den Nebelwerfer aus, als wollte er dem Publikum mit Tschechow sagen, wie schlecht und langweilig ihr lebt. Und auch wenn sich der Zeigefinger nur ein bisschen hob, litt der Abend unter dem Willen zur Belehrung.
Wie wenig typisch dieser Wille für Gotscheff ist, belegen andere Arbeiten im Nominierungszeitraum. Dass die nicht einmal zur Auswahl standen, kann kaum an der Scheu der Jury vor einer Doppeleinladung liegen. Die erging an Jürgen Gosch, der mit Tschechows Drei Schwestern aus Hannover und dem Düsseldorfer Macbeth vertreten war. Mit Shakespeares blutrünstiger Tragödie produzierte der Regisseur einen handfesten Skandal und das bereits zum zweiten Mal.
Der erste liegt fast 20 Jahre zurück. Sein Amt als künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne hatte Gosch damals mit einer spartanisch-strengen, fast sechsstündigen Macbeth-Inszenierung angetreten, die ihre Emotionalität aus dem Zusammenklang von Sprache, Rhythmus, Raum und Farblichkeit bezog. Die Reaktion des Publikums, mehr noch der Kritik, war die beleidigter Gralshüter: Laientheater und Weihespiel hießen die Vokabeln, mit denen die Aufführung verhöhnt und Gosch aus dem Amt vertrieben wurde.
Nun sehen der Macbeth von 1988 und der von 2005 zwar gänzlich anders aus, sind in einem aber gleich: dem Streben nach Wahrhaftigkeit. Und wie einst die Ablehnung beruht heute die Einladung zum Theatertreffen auf einem Missverständnis: Die Begründung benutzt dieselben Worte wie das Skandalgebrüll. Fäkalorgie und Blutfest lautete dessen Tenor, und auch die Jury spricht, wenn auch mit anderer Wertung, in diesem Ton.
Wie wenig angebracht der ist, zeigt schon der erste Satz von König Duncan, der Macbeth´ erstes Opfer wird. "Wer kommt da voller Blut?", fragt er, als er die geschundene Kreatur sieht, die aus der Schlacht zurückkehrt. Wenn der Gemeinte sich vorher auszieht und mit Theaterblut beschmiert, entspricht das also dem Text. Und wenn der heute eine drastische Umsetzung erfordert, gibt es auch dafür einen Grund.
Welchen, zeigt der Vergleich mit 1988, als Gosch für dieselbe Szene ein konträres Bild gefunden hat. Damals trug der Rückkehrer ein rotes Gewand und trat zu einer Gruppe um König Duncan, die in sanfte Pastelltöne gekleidet war. Die Emotionalität und Wahrhaftigkeit des Bildes lag darin, dass mit der Farbe des Gewandes auch dessen Träger in der Gruppe aufgehoben war. Dass solche Bilder heute nicht mehr möglich sind, das ist der eigentliche Skandal.
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