Faust auf Faust

Bühne Der Tragödie erster Teil von Goethes Menschheitsdrama geht in Serie und wird in Berlin von Michael Thalheimer, in Hamburg von Jan Bosse inszeniert

Vor dem Deutschen Theater in Berlin steht seit kurzem eine Skulptur, ein Portal, auf dem in Neonschrift die Worte "Verweile doch" prangen. Dem unfreiwillig scheidenden Intendanten mag diese Aufforderung, wenn er sie auf dem täglichen Weg zu Arbeit passiert, zynisch vorkommen. Doch was wie die Illustration des Streits um das Profil des Theaters wirken mag, ist die überdimensionale Ankündigung der jüngsten Premiere.

Das geflügelte Wort ist jenem Pakt aus Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil entnommen, den Faust mit Mephisto schließt: "Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön!". Verliert Faust, "dann mag die Totenglocke schallen" und des Menschen Seele dem Teufel anheimfallen. Die Identität von Glücksversprechen und Todesdrohung ist als faustisches Dilemma in unseren Sprachschatz eingewandert, weil sie nicht die persönlichen Angelegenheiten von Dr. mult. Johann Fausten betrifft, sondern ein Exempel statuiert.

Fausts Welt ist klein und farblos. Die Vorbühne ist abgebaut, und ein hoher schwarzer Zylinder füllt die gesamte Drehbühne, die langsam im Uhrzeigersinn kreist (Bühne: Olaf Altmann). Auch Faust (Ingo Hülsmann) kommt von rechts, folgt der Bewegung jedoch nur bis zur Mitte der Bühne, wo es am engsten ist. Sein Blick geht nach links und bleibt doch leer für die Welt, die sich neben ihm dreht. Regungslos steht er da und schweigt, nur den Kopf wendet er kurz und schaut ausdruckslos ins Parkett. Dann erst beginnt der berühmte Monolog, in dem Faust den Überdruss an einem Leben formuliert, dem "alle Freud entrissen". Hülsmann betont den Selbstekel, indem er im Ton der Verachtung spricht. "Das ist deine Welt", bilanziert er gequält und blickt auf den rotierenden Zylinder. Erlösung verspricht das gefüllte Glas, das an der Rampe bereitsteht. Zwar nimmt Faust den tödlichen Trank in den Mund, doch obwohl das Geläut der Osterglocken ausbleibt, spuckt er ihn nach kurzer Besinnung wieder aus.

So wenig hält dieser Faust es mit der Religion, dass er den Auftritt Mephistos (Sven Lehmann) kaum zur Kenntnis nimmt. Der gleicht dem Faust ohnehin zu sehr, als dass seine Gegenwart ihn schrecken könnte, und da Faust weder am Teufel noch an dem Handel, den er vorschlägt, einen Pferdefuß entdeckt, lässt er sich auf die Wette ein. "Mach dich zur schönen Fahrt bereit", fordert Mephisto ihn auf, und zum ersten Mal seit einer Stunde verlässt Faust seinen Platz in der Bühnenmitte. Von diesem Schritt wird sich die Inszenierung in ihrer zweiten und letzten Stunde nicht erholen.

Der Regisseur Michael Thalheimer verdankt seine Popularität der stupenden Fähigkeit, ältere Dramatik ins Heute zu übersetzen, indem er die Konflikte - mit ihnen die Figuren - aus ihren angestammten Bindungen an Ort, Zeit und deren Kausalität herauslöst. Doch was sonst die besondere Leistung ausmacht, gerät beim Faust-Stoff zum besonderen Problem, weil die Tragödie zum Trauerspiel, das faustische Dilemma zur Charakterstudie wird. Der Fall Faust beginnt, wenn Deep Purples Child in time vom Band ertönt und grelles Licht aus den Ritzen des rotierenden Zylinders dringt: Nicht Hexen, Zauberspiegel und Verjüngungstrank, sondern Popmusik, Luftgitarre und Discokugel markieren den Beginn von Fausts "neuem Lebenslauf", aus dem mit allem Übersinnlichen auch viel Sinnliches gestrichen ist. Entsprechend profan gerät die erste Begegnung mit Margarete (Regine Zimmermann), die Fausts Zuruf erwidert, ohne sich umzusehen.

Doch die gesichtslose Erscheinung schlägt Faust in ihren Bann und eröffnet ihm eine neue Welt: Unvermittelt klafft im Zylinder eine Öffnung, und sobald diese das gesamte Portal ausfüllt, bleibt die Drehbühne stehen. Unter einem goldenen Kreuz, das sich so zusammenschiebt, steht inmitten der runden Leere ein Bett, das Faust umkreist wie der getarnte Teufel beim Osterspaziergang ihn. Der Pudel wurde gestrichen, und so legt sich die Schlinge, die Mephisto Faust "magisch leise" um die Füße ziehen sollte, gänzlich unmagisch und überdeutlich um Gretchens Kehle, die sie sich am Ende selbst durchschneiden wird.

An diesem Tod auf Raten wirkt nicht nur Mephisto willig mit. Der Anzug- und Krawattenträger Valentin (Henning Vogt) kennt kein Erbarmen mit seiner gefallenen Schwester. Dafür erbarmt sich die Inszenierung seiner und streicht den Todesstoß, den Faust ihm bei Goethe versetzt. Hier führt jedoch kein Teufel seine Hand, und so gerät das Töten planvoll: Das Glas mit dem Trank, der die Mutter einschläfern und die Liebesnacht ermöglichen soll, überreicht er Margarete in dem Wissen, dass es Gift enthält. Wenn sie das Bett mit schwarz geränderten Augen und rot verschmiertem Mund verlässt, ist sie nicht nur äußerlich von ihrem Sündenfall gezeichnet: Durch eine winzige Bewegung der Drehbühne nach rechts ist das goldene Kreuz aus den Fugen geraten.

Rettung, die eine himmlische Stimme der Mörderin an Kind und Mutter im letzten Bild verspricht, ist unter diesen Vorzeichen auch vom Teufel nicht zu erwarten. Der tränkt Margaretes Kleid mit Blut, ehe er Faust die Szene überlässt. Allein und von keiner dunklen Ahnung der Walpurgisnacht getrieben, begibt er sich zu Margaretes Bett, das ihr den Kerker ersetzt. "Glaubst du an Gott?" Die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Körper bis zum Äußersten gespannt, die Füße kaum am Boden, hatte sie Faust vor dem Sündenfall sechs Mal mit der "Gretchenfrage" konfrontiert, bis er sie mit einem Kuss zum Schweigen brachte.

"Mir graut´s vor dir", ruft sie, als Heinrich sich von ihr löst und zur Rampe geht, um sich in der "Anmutigen Gegend" des Faust II vom ersten zu erholen: "So bleibe denn die Sonne mir im Rücken!" Dort liegt, grell beleuchtet, Margarete in ihrem Blut. Während die beiden Männer von der Bühne schlendern, schließt sich der schwarze Zylinder gegen den Uhrzeigersinn. Der Fall Faust kann zu den Akten.

Am Hamburger Schauspielhaus ist die Ausgangslage ähnlich. Schon im zweiten Jahr arbeitet der Intendant Tom Stromberg in dem Wissen, dass diese Spielzeit seine letzte ist. Und zwei Teufelshörner über dem Portal machen weithin sichtbar, was am Anfang dieses Endes steht: Faust I.

Eine Woche nach der Berliner Premiere dominiert auch in Hamburg die Farbe Schwarz. Ein rundes Podium steht dort, wo sonst die besten Plätze sind. Die hat Stéphane Laimé mitsamt dem Saaldekor auf die Bühne verfrachtet. Schwarz ist auch der Engel, der das Podium betritt und mit verbundenen Augen den Prolog im Himmel spricht. Der Regisseur Jan Bosse lässt die Tragödie nicht auf Erden, sondern mit dem Dialog beginnen, in dem Gott und Teufel um Fausts Seele wetten. Doch was ist von einer Wette zu halten, bei der die Kontrahenten aus einem Munde sprechen?

Faust (Edgar Selge) ist vom Studierzimmer in den Hörsaal gezogen, um statt des Monologes eine Vorlesung zu halten. Nicht der Drang nach Höherem treibt ihn an, sondern die Lust, Neues auszuprobieren. So schlendert er durch die Reihen und lässt die Verse gelegentlich vom Publikum beenden. Nicht nur äußerlich knüpft die Inszenierung an die Tradition des Volkstheaters an, indem sie das strikte Gegenüber von Bühne und Parkett aufhebt. Wie das Podium rings von Publikum umgeben ist, wird das Geschehen im Zentrum entscheidend von den Rändern her bestimmt: Die Figuren treten ebenso oft von den Rängen her auf, wie sie sich dorthin zurückziehen. Und gleichmäßig über den Raum verteilt ist ein Chor, dessen Stimmen Geister, Glockengeläut und das Hecheln des Pudels bilden, in dem sich Mephisto (Joachim Meyerhoff) ankündigt. Der ist schwarz gekleidet und beweist seine Macht zunächst an den Scheinwerfern, die er per Fingerschnippen an- und ausstellt. Einem "Zuschauer", der daraufhin den Saal verlässt, nimmt er Brille und Perücke ab. Nach dem Rollentausch gleicht der Teufel dem künftigen Intendanten Friedrich Schirmer aufs Haar.

Es gibt viele Szenen, in denen die Grenze zum Klamauk erreicht, und manche, in denen sie überschritten wird. Dass der gut dreistündige Abend trotzdem konzentriert und ernst gerät, ist dem Umstand zu verdanken, dass noch im Zerrbild die Tragödie erkennbar bleibt. Die konfrontiert Faust mit Situationen, in denen er den Pakt mit dem Teufel schon bereut. Um ihn bei der Stange zu halten, muss Mephisto erst das Bett und dann Gretchen (Maja Schöne) selbst aufs Podium legen: Faust vor die Nase. Von Liebe reden kann der trefflich, zu Gefühlen ist er jedoch erst im Schwarzlicht der Walpurgisnacht fähig. Da hat der Chor die "Dies Irae" längst beschworen und Gretchen sich ihren Platz im Publikum gesucht. Von dort aus weint und klagt und trauert sie sich bis aufs Podium vor, auf dem zwei Teufelshörner blinken. "Sie ist gerichtet", stellt Mephisto lakonisch fest, ehe er Faust zu sich ruft. Der verlässt die Szene so stumm, wie es die himmlische Stimme bleibt, die Rettung versprechen könnte. Doch was war von einer Wette schon zu halten, bei der die Kontrahenten aus einem Munde sprechen?


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