Als mit der Wende die stete Geldquelle Bonn versiegte, standen Kultureinrichtungen auf Berlins Streichliste ganz oben. Und da der frühere Osten laut Einigungsvertrag tabu war, ging es zunächst dem alten Westen und dort dem Theater der Freien Volksbühne an den Kragen. Im Kalten Krieg als Ersatz für das "drüben" gelegene Stammhaus erbaut, bot es in jedem Mai dem Theatertreffen - so alt wie das Gebäude und selbst ein Relikt des Kalten Krieges - eine Heimstatt. Nach der Schließung fiel das Haus in einen Dornröschenschlaf, um zum 40. Geburtstag als Haus der Berliner Festspiele wachgeküsst zu werden. Seither präsentiert dort die namensgebende Tochter einer GmbH des Bundes das Theatertreffen und andere kulturelle Großveranstaltungen; so genannte Leuchttürme, in deren Licht die Hauptstadt erstrahlen soll. Die schrittweise Rücknahme der Schließung ist abgeschlossen, seit die Ganzjahres-Bespielung des Hauses gewährleistet ist.
Spielzeiteuropa heißt die neue Programmreihe, die von Oktober bis Februar dauert. Dieses zeitlich lose Band wurde durch die Berufung auf den "alten Kontinent" nicht fester. Zwar kündigte das Programm "eine konzentrierte Auswahl aus ganz Europa" an, erklärte "die Sicht von außen" jedoch für nicht minder wichtig. Ähnlich unbestimmt war die Genre-Zugehörigkeit der 15 Inszenierungen aus drei Kontinenten, die vom Schauspiel über Tanztheater bis zur Performance fast alle Spielarten zeitgenössischer Bühnenkunst repräsentierten. Dem versuchte der Raum Rechnung zu tragen, in dem sie gezeigt wurden: Wo sonst Parkett und Rang klar geschieden sind, ließ nun eine eigens eingebaute Tribüne oben und unten nahtlos ineinander übergehen. Vollends "demokratisch" gerät der Zuschauerraum, wenn das Publikum auf dem Balkon platziert und alles davor zur Bühne erklärt wird.
Von hier die beiden Frauen vor dem Eisernen Vorhang zu erkennen, fällt im Halbdunkel nicht leicht. Und da sie identisch gekleidet sind, deutet nur ein Indiz darauf hin, dass die "Aktive", die sich mühsam die Schräge hinauf und wieder hinunter arbeitet, Antigone meinen könnte, die sich laut antiker Vorlage der staatlichen Ordnung widersetzt. Dann könnte jene, die dazu auf einer Flöte Udo Jürgens Gassenhauer Griechischer Wein spielt, für ihre "passive", sich den Gesetzen fügende Zwillingsschwester Ismene stehen: Antigone ist eine achtteilige Performance von Wanda Golonka. In Berlin wurde sie an einem Abend in mehreren Stationen gezeigt, die sich die Titelfigur aus verschiedenen Perspektiven erschließen wollen.
Das gelingt jedoch allenfalls mit der Bühne und erfordert den Einsatz von Video und Stroboskop ebenso wie den des Publikums. Das wird nach dem dritten Teil auf die Bühne geleitet, um zu verfolgen, wie eine schwarz gekleidete Frau auf Kothurnen vom Hof aus die grell beleuchtete Seitenbühne betritt und in Form eines Kreuzes abschreitet. Dessen linker Arm endet vor einer Statistik, die "Frauen in Führungspositionen" auflistet. Der groteske Ernst des Abends wird unfreiwillig konterkariert, wenn der Blick auf die Gelben Tonnen im Hof fällt: Nicht jeder Stoff eignet sich zur politisch korrekten Wiederverwertung.
Und nicht jede politisch korrekte Wiederverwertung ergibt einen brauchbaren Stoff. Der Kanadier Robert Lepage wollte ursprünglich Brecht/Weills Dreigroschenoper inszenieren. Als die Erben kurz vor der Premiere ihr Veto einlegten, arbeitete er die Vorlage, John Gays Beggar´s Opera, zu einer eigenen Lesart namens The Busker´s Opera um. Ein Straßenmusiker betritt zu Beginn des Abends die Bühne und gibt eine Kostprobe seines stupenden Könnens als Trommler. Ihm gegenüber kündet ein Schild der Künstleragentur Peachum vom Unheil, das solch urwüchsigen Naturtalenten droht. Der Rest ist aufwändiger Vollzug dessen, was im ersten Bild angelegt ist. Peachum vermittelt den Trommler an den Bandleader Macheath, den eine Lederhose als Nonkonformisten ausweist. Mit bürgerlichen Regeln über Kreuz, verführt er Peachums minderjährige Tochter. Mehr um sein Auskommen als sein Fleisch und Blut besorgt, wittert Peachum die Chance, sich die Rechte an Macheaths uvre zu sichern. Das absehbare Ende wird hinausgezögert und Macheath um die halbe Welt geschickt. Eine Live-Band markiert durch Klänge im Lokalkolorit die Orte seines Leidensweges, auf dem ihm verderbte Vertreter der Musikindustrie nachstellen.
Die Naivität des Schwarzweiß-Bildes schlägt in Zynismus um, wenn das originäre Künstlertum mithilfe einer bombastischen Bühnentechnik besungen und dessen Gefährdung zu weltpolitischen Konflikten wie dem Irakkrieg in Beziehung gesetzt wird. So wird die Aktualisierung der barocken Bettleroper zum Luxusexemplar jener Unterhaltungsindustrie, die sie zu kritisieren vorgibt.
"I´m not trying to be original", sagt ein Spieler gegen Ende von Big in Bombay. Und wie das Lepage-Gastspiel lehrt, tut er gut daran, der Mär künstlerischer Originalität zu misstrauen. Die Inszenierung, in der er auftritt, tut das genaue Gegenteil. Die Choreografin Constanza Macras und ihre Truppe Dorky Park sind die Shooting-Stars der internationalen Tanzszene. Im Rahmen von Spielzeiteuropa zeigten sie ihr neues Stück, das inzwischen zum Repertoire der Berliner Schaubühne gehört. Von einem als Wartesaal dienenden gläsernen Container ausgehend und immer wieder dorthin zurückkehrend, reißen die Spieler und Tänzer sämtliche Themen an (sich), die aktuelle Zwiegespräche, Schlagzeilen und Fernsehbilder bestimmen. Das Gemenge aus Kultur, Politik und Privatsphäre wird mit fernöstlichen Tanzeinlagen und anderen Reiseandenken verschnitten. Ein Video zeigt das Ensemble beim Stadtrundgang in Bombay, angetan mit Masken von Disney-Figuren. Kurz darauf durchstreift es den Pariser Disney-Park in indischen Gewändern. Die Virtuosität der Live-Band, die den anspielungsreichen Abend begleitet, steht in krassem Widerspruch zum Abend selbst, der fehlende Form mit Avantgardismus verwechselt.
Das Gastspiel von Peter Brook fand in den Sophiensälen statt, deren spartanisches Interieur eher zum frugalen Theater des fast 80-Jährigen passt, der zu den prägenden Regisseuren des Welttheaters zählt. Mit Tierno Bokar hat er nun ein lang gehegtes Projekt realisiert - und sich schnurstracks ins Reich des Okkulten begeben. Dass er sich dabei als Meister des epischen Theaters erweist, hindert einen daran, den Abend als Alterserscheinung abzutun. In warmes gelbliches Licht getaucht, liegen auf schwarzem Untergrund erdfarbene Bast-Teppiche und edle Requisiten, die den schwarzen Kontinent als Hort der Demut und Bescheidenheit vorstellen - Werte, die der malische Sufi-Meister Tierno Bokar gelehrt hat, dessen Biografie dem Abend als Vorlage dient. Dass die historische Figur trotz Gefährdungen durch widerstreitende Lehren und Kolonialherren ihren Überzeugungen treu geblieben ist, verdient Respekt. Das Gegenteil gilt für eine Inszenierung, die in der Flucht vor der Welt den Königsweg für ihre Errettung ausmacht. "Das absolute Licht der Wahrheit", das Bokar für seine Anhänger verkörperte, will dieser Abend in einer mit seichten Flötentönen untermalten Langzeit-Predigt ins Herz des Publikums senken. Das Sendungsbewusstsein, das er dabei entwickelt, macht ihn blind für die dialektische Volte, dass Werte wie Demut und Bescheidenheit diametral jener Beharrlichkeit widersprechen, mit der sie eingeklagt werden.
"Und zum Spazierengehen genügt das Sonnenlicht" stand über der ersten Spielzeiteuropa. Das Kunst-Licht aber, das die dunkle Jahreszeit erhellen sollte, wirkte eher fahl. Die Schieflage, so ist zu vermuten, wurde in Kauf genommen, um ein weiteres jener kulturellen Events zu etablieren, für die sich die Metapher "Leuchttürme" etabliert hat. Wie die Auslastung belegt, besteht daran durchaus Bedarf. Gleichwohl seien Kulturpolitiker in Bund und Land daran erinnert, dass Leuchttürme zwar in die Ferne strahlen, zu ihren Füßen aber lange Schatten werfen. Sie als Ersatz für Lichtpunkte vor Ort zu begreifen wäre deshalb fatal.
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