"Kein Selbst, keine Angst. Phantastisch, nicht?" Geradezu euphorisch schreibt der Psychiater Mogens Jensen (Hans Löw) seinem Freund Peter Egerman (Jörg Pose) ins Stammbuch, dass der Tod vor Leidenschaften schützt. Als Kenner der Materie weiß er selbstverständlich, dass der Umkehrschluss genauso gültig ist: Keine Angst, kein Selbst. Doch darüber, dass ohne Leidenschaft kein Leben existiert, schweigt sich der Seelenklempner aus.
Ihm das als berufliches Versagen auszulegen wäre allerdings verfehlt, denn mit der Halbwahrheit befindet er sich in allerbester Gesellschaft: der abendländischen. Seit Immanuel Kants Beantwortung der Frage, was Aufklärung sei, erweist sich deren Mut darin, sich des Verstandes zu bedienen. So notwendig der Schritt des Individuums in die Mündigkeit auch war (und ist), nach über 220 Jahren liegt über allem, was sich dem Verstand entzieht - Affekte, Sinnlichkeit, Gefühl - ein gigantisches Tabu. Mut, so der Umkehrschluss, erweist sich heute vielleicht darin, sich zu Leidenschaften zu bekennen. Bleibt die Frage: Wie?
Peter Egerman taugt als Vorbild kaum. Der erfolgreiche Ingenieur hat eine Prostituierte getötet und sich an der Leiche vergangen. Ihr Pech war, dass sie wie seine Frau, nämlich Katarina hieß.
Der Versuch, die Konsequenzen des allgegenwärtigen Tabus an Paarbeziehungen zu beschreiben, bestimmt das Lebenswerk des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman. Von der Arbeit am Tabubruch zeugen bereits die Titel seiner Filme: Krise (1946) der erste, Szenen einer Ehe (1973) der berühmteste, Das Schweigen (1963) der skandalumwittertste, dessen sexuelle Freizügigkeit sogar den Deutschen Bundestag beschäftigte. Aus dem Leben der Marionetten entstand 1980 in Deutschland mit Schauspielern des Münchener Residenztheaters und wurde vom Zweiten Deutschen Fernsehen produziert. Mit dem Mord beginnend, zeichnet der Film jenes bestialische Verbrechen nach, das Peter Egerman begeht.
27 Jahre später, so sollte man meinen, hat der Stoff viel von seiner Sprengkraft eingebüßt. Für den Film mag das auch gelten, der heute wohl skandalfrei auf der Leinwand und im Fernsehen laufen könnte. Vor einer Woche sind Bergmans Marionetten jedoch auf der Bühne angekommen, und dort gelten immer noch die Regeln des vergangenen Jahrtausends: Während Obszönitäten auch im Theater kaum noch jemanden verschrecken, ist Sinnlichkeit - die "Ekeldebatte" hat es erst letztes Jahr wieder gezeigt - weiterhin so tabuisiert wie in der Gesellschaft, die dort zusammenkommt.
Als scheue der Regisseur und Bühnenbilder Andreas Kriegenburg davor zurück, diese Regeln offen zu verletzten, öffnet sich der schwere rote Samtvorhang des Hamburger Thalia Theaters nur zögerlich. Und wie ein zweiter Riegel der Moral steht knapp dahinter eine Wand aus breiten roten Gitterstäben, die kaum den Durchblick auf das erlauben, was dahinter liegt: ein fernöstliches Interieur, das von zwei Kirschbäumen in voller Blüte dominiert ist. Fernöstlich wirkt auch die junge Frau mit hochgestecktem Haar, die sich zu den Klängen eines archaischen Gesangs mit unendlicher Langsamkeit aus einem Kimono schält. Zehn wortlose Minuten dauert es, bis die letzte Hülle fällt - und sich das Phantasma einer enttabuisierten Sinnlichkeit zu einem Sexualobjekt mit langem schwarzem Haar und Rückentätowierung verkehrt.
Denn parallel zu ihrem Tanz wird im langsam heller werdenden Licht (apropos Tabus: die Deckenlampen erinnern schwer an den Berliner Palast der Republik) ein Mann erkennbar, der im schwarzen Anzug reglos auf einem weißen Sofa liegt, und eine ebenfalls europäisch gekleidete Frau schreitet mechanisch die Gitter des Bühnenkäfigs ab. Wenn sich der Mann schließlich erhebt und auf die nackte Frau zugeht, blitzt ein Messer auf. Doch dann fällt das erste Wort des Abends und schneidet die Szene ab. Denn ungleich mehr als für den Mord interessiert sich Kriegenburg für die destruktive Energie, die Menschen zu Marionetten macht. Und destruktiv heißt zunächst einmal selbstzerstörerisch.
So betritt Daniel Hoevels als leitender Ermittler die Bühne zwar im Trenchcoat, doch mit einem anderen Auftrag als bei Bergman. Schließlich gibt es weder einen Mord noch eine Leiche. Damit lässt sich der dreistündige Abend bis zur letzten Minute Zeit. Und so kann Egerman auch nicht an seinen Schachcomputer in der Nervenheilanstalt "entlassen" werden, sondern muss die minutiöse Aufarbeitung seiner seelischen Beschädigungen über sich ergehen lassen. Die Befragung seiner Mutter (Katharina Matz) dient diesem Zweck ebenso wie die Stellungnahme des Psychiaters oder des schwulen Hausfreunds Tim (Helmut Mooshammer).
Wie der Film erzählt auch die Theaterinszenierung das Geschehen jedoch nicht linear. Um die Sprünge von Zeit und Ort zu markieren, hebt und senkt sich das Gitter am Portal und fokussiert so den Blick mal auf Peters Frau Katarina (Judith Hofmann), dann wieder auf ihre käufliche Namensvetterin Ka (Katharina Behrens). Doch wie Egermans Welt gerät auch diese Ordnung sehr bald durcheinander - etwa wenn Egerman gegenüber Jensen seine Mordphantasien einräumt und der Psychiater mit der späteren Tatwaffe herumhantiert.
Mit subtilen und leicht zu übersehenden Details wie diesem gelingt es der Inszenierung, die Kraftlinien einer destruktiven Energie nachzuzeichnen, von der nicht nur Peter Egerman befallen ist. Das Resultat ist frappierend, weil mit der schrittweisen Annäherung an einen bestialischen Mord eine Sinnlichkeit Einzug hält, die auf der Bühne normalerweise genauso tabuisiert ist wie in der Gesellschaft, die darin zusammenkommt. Es sind Bilder voller Zärtlichkeit, denen das gelingt: etwa, wenn Katarina Trost bei Tim sucht und beider Nacktheit zum stummen Bekenntnis ihrer Angst gerät. Im Hintergrund verdoppeln Peter und Ka das Bild zu einem Stillleben ausgelebter Emotionen.
Den größten Anteil an der wundersamen Wandlung haben, wie sollte es anders sein, die Schauspieler, die bei der Anatomie des Seelenlebens der Figuren ohne psychologisches Spiel auskommen. So wird Peter zwar schlaflos aus dem Ehebett getrieben, doch äußern sich seine Selbstzweifel nicht in einer krausen Stirn, sondern einem artistischen Tanz. Wie Jörg Pose spielt auch Judith Hofmann mit großer (körper)sprachlicher Brillanz. Und Helmut Mooshammer gelingt es, Tim zur einzigen Figur zu machen, die um den Zusammenhang von Leben und Leidenschaften weiß: Auch ohne danach gefragt zu werden, gesteht er dem Ermittler seine Beschädigungen ein.
Um Peter dahin zu bringen, waren die drei Stunden nicht genug. So muss er am Ende doch noch den Mord verüben. Doch nun, da man um die Vorgeschichte weiß, kann die Tat ihm eher unterlaufen als dass er sie verübt. Nach der Wiederholung eines Duetts mit Ka, die sich nur durch seine Nacktheit unterscheidet, setzt er ihr das Messer an die Kehle. Doch nicht daraus, sondern aus dem Bühnenhimmel fließt das Blut. Und vom Namen eines Mörders fällt dem dozierenden Psychiater nur noch die erste Silbe ein.
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