Ohne geht es nicht

Inbrunst statt Form Drei Tschechow-Inszenierungen in Berlin zeigen das Spektrum der aktuellen Theatermittel - einfühlend, parodistisch, hoch artifiziell und absolut natürlich

"Ohne Theater geht es nicht", heißt es in Tschechows Stück Die Möwe. Aufgewertet wird das Bekenntnis dadurch, dass es von einem Laien und Liebhaber der Bühnenkunst geäußert wird. Von den vier Hauptfiguren ist kein Widerspruch zu erwarten, weil sie als Schauspieler und Dichter dem Theater professionell verbunden sind. Und so thematisiert Tschechow an den emotionalen Verwicklungen der Figuren auch die Frage, wie das Theater diese Verwicklungen zur Sprache zu bringen kann. Dank einer seltenen Konstellation hatten letzte Woche in Berlin drei Tschechow-Inszenierungen Premiere, die auf diese Frage drei verschiedene Antworten fanden.

Das naturalistische Theater hat eine Lesart etabliert, die Tschechow als Dichter der Schwermut und Depressivität begreift. Diese Tradition übersieht, dass es sich bei den Stücken um Komödien handelt, die nicht das Leben, sondern die Lebenden aufs Korn nimmt. Der Regisseur der Möwe, Árpád Schilling, betont diese Differenz, indem er sie vermeintlich negiert: Ein kurzes Aufflammen der Scheinwerfer spielt zu Beginn Möglichkeiten des Theaters durch, um sie zugunsten des Einheitslichtes zu verwerfen. Die Akteure betreten die kleine karge Bühne aus dem Publikum. Dort saßen sie unter Gleichen, weil sie Alltagskleidung tragen. Alltäglich ist auch ihre Sprechweise, die Existenziellem und Banalem den gleichen Tonfall gibt. Doch was wie "echtes" Leben wirkt, ist in Wahrheit hoch artifiziell. Das zeigt sich immer dann, wenn die Spieler aus Situationen aussteigen und sie rückwirkend als Spielsituationen kenntlich machen. Schließlich hieß die Aufgabenstellung nicht, das Leben zu kopieren, sondern nach Formen zu suchen, die es zur Sprache bringen.

Eine Fundgrube der Formen sind Die Vaterlosen an der Volksbühne. Nur zur Sprache bringt Regisseur Stefan Pucher nichts, weil ihm das Stück, bekannter unter dem Titel Platonow, als Austragungsort für offene und versteckte Anspielungen dient. Auf der mit Bastmatten dekorierten Vorbühne hockt ein Lockenkopf (Thomas Wodianka) an einer tropischen Strandbar. Während sich aus einem schrillen Krächzen die Stimmen der Bee Gees herausschälen, erhält der Lockenkopf Besuch von "Wilden" in Baströcken, die ein flottes Stammestänzchen aufführen. Ein Video zeigt derweil eine "falsche", weil naturalistische Tschechow-Inszenierung. Sobald die Musik verstummt, öffnet sich die Szene zu einer Lounge, deren Bewohner sich auf Chaiselongues lümmeln. Chef im Ring bleibt der Lockenkopf, der nun - nach Houellebecqs Elementarteilchen - Michel heißt und mit Sonnenbrille aussieht wie Bob Dylan. Das Lied, das er zur Klampfe singt, stammt von Neil Young und lockt Ossip (Wolfram Koch) an, der Frank Zappa wie aus dem Gesicht geschnitten ist.

Wie frühere Arbeiten Puchers lässt sich auch diese als Kritik des Kultur-Betriebs begreifen, und wie frühere Arbeiten krankt auch sie daran, dass sie dem Kritisierten allzu ähnlich ist: Die Musik ist so dominant, dass allenfalls das Video konkurrieren kann, das fast pausenlos auf der Rückwand flimmert und auch einen Tiefschlag gegen den Intendanten des Hauses setzt. Text und Handlung werden darüber zur Nebensache. Das gleiche Los ereilt die Schauspieler, die prompt nicht alle zum Applaus antreten. Mehr als der Inszenierung gebührt der Beifall ohnehin der Musik. Dass die ausschließlich von Vätern dieser Vaterlosen stammt, ist eine Pointe, die vielleicht der Regisseur zu deuten weiß.

Leichter fällt die Dechiffrierung im Deutschen Theater. Dort übernimmt der neureiche Lopachin (Ulrich Matthes) von der Ranewskaja (Dagmar Manzel) außer dem Kirschgarten auch das knallige Türkis ihres Pullovers. Der neue Inhaber plant, den alten Baumbestand durch neue Datschen zu ersetzen. Von der Tat kündet nur das Lärmen der Motorsägen, und der Landsitz ist ein neutraler Raum, der sich bei Bedarf mit Möbeln füllt, die an Strippen herabgelassen werden. Eine Videoprojektion ordnet den drei ersten Akten die Elemente Luft, Wasser, Erde zu und legt den vierten in tristes Einheitsgrau.

Trist ist in der Tat, dass das Familiengut überschuldet und nicht zu halten ist. Doch richtig bedrückt ist Ranewskaja nicht. Der Tod ihres Sohnes wiegt auch nach Jahren schwerer, und zu Trübsal neigt sie ohnehin nicht. Diesen Widerspruch der Emotionen trägt Dagmar Manzel vor allem stimmlich aus, indem sie zwischen schroff und zärtlich, laut und leise, Alt und Sopran wechselt. Unschöner Kontrast dazu ist eine stumme Trauerarie, in der sie sich minutenlang am Portal ausweint.

Auf Inbrunst statt Form verpflichtet die Regisseurin Barbara Frey auch andere Hochkaräter wie Ulrich Matthes, Inka Friedrich und Dieter Mann, dessen prägende Arbeit als Protagonist und Intendant des Hauses sich mit der Rolle des Gajew dem Ende zuneigt. Für akustischen Missklang sorgt der Utopist Pjotr (Frank Seppeler), der die neue Zeit förmlich herbeischreien will. Mit einem der wenigen leisen Sätze fordert er Lopachin auf, das nervige "Geschlenker" mit den Armen zu lassen. Weniger Theatralik täte auch der Inszenierung gut, die den Wandel der Epochen, die Tschechows Stück beschreibt, mit Mitteln der theatralischen Vorwandelzeit nachvollziehen will.


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