Sterben muss sie dennoch

Ein umgedrehter Handschuh Das Hamburger Thalia Theater zeigt "Lulu" von Frank Wedekind als kitschverdächtiges Emanzipationsstück

In einem kurzen cremefarbenen Kleid betritt Lulu (Fritzi Haberlandt) die nackte Bühne, deren einzige Zutat eine weiße Leinwand vor der rückwärtigen Brandwand ist. Dort stellt sich die 18-jährige Kindfrau in Positur, um sich im Auftrag ihres Ehemannes porträtieren zu lassen. Im Hamburger Thalia Theater lassen sich jedoch weder der Künstler noch der Kunstfreund blicken, und so wird Frank Wedekinds "Urgestalt des Weibes" nicht mit Pinsel und Palette, sondern von den Lichtkegeln zweier seitlich aufgestellter Scheinwerfer nachgebildet, die ein doppeltes Schattenbild auf die Leinwand werfen. Knapp zwei Stunden, drei Ehemänner und ungezählte Liebhaber später wird auf die Leinwand, die von der Rampe im Zeitraffer in die Ausgangsstellung zurückfährt, ein zunächst unscharfes Videobild projiziert, das schließlich Lulus Gesicht des Anfangs zeigt: intakt.

"Eine Monstertragödie" heißt Lulu im Untertitel, und so monströs wie das Geschehen, das es schildert, ist auch die Entstehungs- und Aufführungsgeschichte des Stücks. Mit fünf Akten als klassisches Drama angelegt, verfasste der Autor es, "ohne im Traum an eine Bühnenaufführung zu denken". Dem standen der Naturalismus und die wilhelminische Prüderie im Wege, in deren Namen die beiden letzten Akte mit einem Verbot belegt wurden. Also teilte Wedekind Lulu in zwei, jeweils um einen Akt erweiterte Stücke. Der Erdgeist wurde 1895 gedruckt, und die ersten Inszenierungen seines Stücks ließen Wedekind staunen, dass es "wie ein Handschuh auch umgekehrt noch leidlich Figur machte." Bis Die Büchse der Pandora, der zweite Teil der Lulu-Tragödie, uraufgeführt werden konnte, verging ein weiteres Jahrzehnt.

Diese Zweiteilung hatte bis 1988 Bestand, als Peter Zadek am Deutschen Schauspielhaus erstmals die im Nachlass gefundene "Urfassung" benutzte, auf die sich auch die Inszenierung von Michael Thalheimer beruft. Dank großzügiger Striche kommt der Regisseur mit der Hälfte der Zeit aus, die Zadek benötigte, und dank einiger selbst ersonnener Passagen verklart er vieles, was in der Vorlage im Dunkeln bleibt.

Es gibt kaum ein Attribut, mit dem Lulu nicht versehen worden wäre: Als männerfressende "femme fatale" galt und gilt sie ebenso wie als Inbegriff der Unschuld oder Vorkämpferin für die sexuelle Befreiung der Frau. An der Begriffsverwirrung nicht unschuldig ist das Stück selbst, das seine Hauptfigur mit vorbelasteten "Kosenamen" wie Eva oder Mignon belegt, die als Ausdruck für männliche Zuschreibungen dienen und Lulu ebenso bis in ihre Todesstunde verfolgen wie das Wunsch-Bild im Pierrot-Kostüm, das Schwarz zu Beginn von ihr malte.

Während Thalheimer auf das Gemälde verzichtet, lässt er die Männer vollständig antreten und "akt"-weise das Zeitliche segnen - und zwar im doppelten Sinn, denn Lulus ersten Ehemann Dr. Goll (Christoph Bantzer) trifft der Schlag, als er sie mit dem nackten Schwarz (Hans Löw) erwischt, der daraufhin ihr zweiter Gatte wird. Als er Lulu in Gesellschaft seines Freundes Dr. Schöning (Norman Hacker) antrifft, macht ihm dessen blanker Hintern klar, dass seine Frau nicht so tugendhaft ist wie gedacht. Daraufhin schneidet er sich die Kehle durch und macht den Platz an Lulus Seite frei für eben jenen Dr. Schöning, dessen Haus bald zu einem florierenden Bordell wird. Als auch sein Sohn Alwa (Felix Knopp) vor der Stiefmutter die Hosen runterlässt, will Schöning Lulu zwingen, sich mit seiner Pistole zu erschießen. Der Schuss jedoch trifft ihn und macht die junge Witwe zur Mörderin.

Dass die Männer im ersten Teil ständig die Hosen runter lassen, während Lulu für jeden Kleiderwechsel die Bühne verlässt, ist zwar charmant, der Sache jedoch eher abträglich, weil solch triebgesteuerte Karikaturen den Schatten auf der Leinwand Hohn sprechen, die immer länger werden, je weiter sie im Zeitlupentempo nach vorn rückt. So wenig bedrohlich wie die Männer sind die Situationen, in die Lulu durch sie gerät, und mit dem Wissen um sich selbst, das ihr erfundene Textpassagen in den Mund legen, wäre es ihr ein Leichtes, mit der zunehmenden Enge der Bühne auch dem Schicksal zu entkommen, das sie und Alwa nach Paris verschlägt, wo Casti-Piani (Helmut Mooshammer) und Rodrigo Quast (Peter Molzen) sie zu erpressen versuchen.

Der Alternative, ein Leben im Bordell oder im Gefängnis zu fristen, entkommt Lulu mit Hilfe ihres Vaters Schigolch (Markus Graf) und der Gräfin Geschwitz (Maren Eggert), die laut Wedekind im zweiten Teil zur "tragischen Hauptfigur" wird, während Lulu "eine rein passive Rolle" spielt. Als Grund für diesen Fokuswechsel führt er an, dass die Gräfin "im ersten Akt den Beweis einer übermenschlichen Selbstaufopferung" abgibt, im zweiten "das Verhängnis der Unnatürlichkeit unter Aufbietung all ihrer seelischen Energie zu überwinden" sucht und im letzten "als Verteidigerin ihrer Freundin einen Opfertod stirbt". Doch wo, wie im Thalia, sämtliche Motive dafür gestrichen werden, bleibt von der selbstlos Liebenden nur eine lästige Lesbe, vor der Lulu weitaus mehr graut als vor den Männern, an die sie sich in einer schäbigen Londoner Dachkammer verkauft.

Als die in jeder Hinsicht ruinierte Gräfin sie dort aufstöbert, hat sie laut Wedekind das Gemälde bei sich, das Lulu im Pierrot-Kostüm zeigt. "Schafft es mir aus den Augen!", empört sich die Porträtierte in der Ahnung, dass das männliche Wunsch-Bild nichts Gutes verheißt: Der nächste Freier, den Lulu anschleppt, rammt erst der Gräfin, dann ihr ein Messer in den Bauch. Im Thalia kam die Gräfin mit leeren Händen und ohne Grund. Sterben muss sie dennoch, und sterbend erst erhält sie Gelegenheit, der toten Lulu ihre Liebe zu gestehen, während die Leinwand im Zeitraffer in die Ausgangsstellung zurückfährt und schließlich Lulus Gesicht des Anfangs zeigt: intakt. Dass die Inszenierung trotz dieses monströs-kitschigen Wunsch-Bildes "noch leidlich Figur machte", ist den Schauspielern zu verdanken, die den Abend mit Präzision und gutem Willen über alle inhaltlichen und formalen Widersprüche hinwegtrugen.


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