Wünschen, was man noch nicht weiß

Das 40. Theatertreffen in Berlin Theaterwunder ist, wenn uns aus alten Stücken plötzlich Zeitgenossen entgegentreten

Noch ehe das 40. Theatertreffen beendet ist, vermischen sich manche Bilder und Töne, während andere mit dem zeitlichen Abstand an Deutlichkeit eher gewinnen. Selten sind diese "Schieflagen" der Erinnerung ganz zufällig. Den blutigen Weg Richard des Dritten auf Englands Thron etwa erzählte Stefan Pucher in einer Art filmischer Rückblende: Er lässt das Stück beim Schlussapplaus beginnen, der auf eine metallene Leinwand projiziert wird. Wenn sie sich hebt, gewinnt die Bühne von Barbara Ehnes kaum an Tiefe, und folgerichtig fungiert Robert Hunger-Bühler in den drei Stunden des Zürcher Gastspiels nicht als mordender Machtmensch, sondern als Fernseh-Moderator seiner eigenen Biographie. Wenn sich die Bühne im letzten Akt doch noch zu einem theatralen "Erfahrungsraum" öffnet, erscheinen die Geister der Gemordeten als Yedi-Ritter, und der Rächer Richmond spricht mit der Synchronstimme Robert de Niros. Sein Pferd darf Richard sich noch herbeiwünschen, aber der Schluss des Dramas, in dem ihm bei Shakespeare der Garaus gemacht wird, fällt dem Schnitt zum Opfer: FSK ab 12.

Solches Zitieren "medialer" Sehgewohnheiten überbot Thomas Ostermeier noch mit seiner Berliner Nora-Inszenierung. Bis ins Bühnenbild von Jan Pappelbaum hinein ist sie vollständig von ihnen durchtränkt. Den Zerrbildern, die unsere televisionäre Wirklichkeit bestimmen, scheint Anne Tismers Nora Helmer entsprungen; in unschuldiges Weiß gekleidet fügt sie sich als bewegliches Inventar in das luxuriöse Ambiente ein, das sich ihr Mann Torvald (Jörg Hartmann) dank seiner neuen Stelle leisten kann. "Leben" findet hier allenfalls im großen Aquarium statt, auf dem Torvald treibt, nachdem Nora ihn fernsehgerecht niedergestreckt hat. Ein Motiv bleibt die Inszenierung der Schaubühne jedoch schuldig, denn nicht einmal Affekte werden Nora zugebilligt - bis zum Schluss jedenfalls, wenn sie, von Zweifeln geplagt, vor dem Haus kauert und aus den Lautsprechern bedeutungsschwere Musik erklingt. Dass sie im letzten Bild erklärt, was zu zeigen sie sich zwei Stunden lang geweigert hat, macht die Inszenierung zu einem Ärgernis.

Auch die Nora-Inszenierung des Hamburger Thalia-Theaters nahm den Konflikt leichter, als er bei Ibsen geschrieben steht, jedoch nicht auf die leichte Schulter. Nora (Susanne Wolff) steckt sich eine Zigarette an, um sie bereitwillig auszumachen, wenn ihr Mann (Norman Hacker) sie freundlich darum bittet. Als er nach der abschließenden Aussprache ins Bett geht und ihr die Entscheidung über die Zukunft überlässt, zieht sie sich zum Nachdenken auf die Terrasse zurück - und zum Rauchen.

Regisseur Stephan Kimmig verlegte das "Puppenheim" des 19. Jahrhunderts in die Welt heutiger Erwachsener, die über den Zustand der Naivität unwiderruflich hinaus sind. Ihre Lebenserfahrung hat sie den Traum von Glück und Selbstverwirklichung längst gegen den schlichten Wunsch zu überleben eintauschen lassen. Entsprechend sachlich fallen die Argumente aus, mit denen hier Christine Linde (Victoria Trauttmansdorff) Lars Krogstadt (Stephan Schad) eine gemeinsame Zukunft schmackhaft zu machen versucht. Ihre Erwartung daran erschöpft sich in der Hoffnung, dass die allgemeine Tristesse erträglich wird, von der noch das farblose Bühnenbild von Katja Haß geprägt ist. Nur der Sandsack auf der Terrasse zeugt von den Emotionen, die hier unterschwellig wirksam sind.

Die unterschwelligen Gefühle ans grelle "Kunst"-Licht zu zerren bemüht sich Frank Castorf mit solchem Erfolg, dass er mit der Zürcher Produktion von Trauer muss Elektra tragen und der Volksbühnen-Dramatisierung von Der Meister und Margarita gleich zweimal auf dem Theatertreffen vertreten war - was jene zu bestätigen scheint, die in Castorfs Arbeiten eine sich perpetuierende "Methode" erkennen, die mehr als an einem "Werk" an der Fortschreibung einer Obsession interessiert sei. Mit einer winzigen Drehung wird aus dem Vorwurf an den Regisseur die treffende Beschreibung eines "Stils", der auf der Suche nach Wahrhaftigkeit jedem Abgrund nachspürt, der in und mit den Vorlagen zu finden ist. Solche Expeditionen müssen länger dauern, exzessiver ausfallen, weil jeder dieser Abgründe in weitere führt, denen, und sei es mit der Videokamera, bis in den letzten Winkel nachgegangen wird.

Das Sediment, das so in die Bühnen-Gegenwart gefördert wird, dient dieses Mal dazu, aus O´Neills bitterer Abrechnung mit seiner gewalttätigen "Heimat" eine Ballade über "Krieg und Frieden" (nicht nur) in den USA zu formen und aus Bulgakows apokalyptischer Prophezeiung ein Melodram über "Gottes Werk und Teufels Beitrag", der nicht allein auf den Namen Stalin hört. Die "Hysterie", die Castorf und seiner "Truppe" häufig unterstellt wird, entpuppt sich also als die in der Tat "abnorme", weil seltene Fähigkeit, komplexe Zeit- und Kausalstrukturen im Präsens zu erzählen und damit zu einer "realen" Erfahrung werden zu lassen - an der selbst der Geruchssinn teilhat, wenn die ohnehin versalzenen Rühreier auch noch anbrennen.

Die Versuchung, für dieses Verfahren einen "Ismus" zu prägen, ist groß. Ihr zu erliegen beschwört jedoch die Gefahr herauf, Andreas Kriegenburg für einen Adepten und seine Münchner Orestie für ein Plagiat zu halten. Zugegeben, in der ersten der fünf Stunden scheint sie das Original übertrumpfen zu wollen, etwa wenn der Sieg über Troja Angela Merkel auf den Plan ruft, die "George W." wechselweise in den Arsch kriecht und ihm den ihren hinhält, um sich am Aufbau von freedom and democracy zu beteiligen. Doch kaum hat sich Ulrike Krumbiegel die Brille aufgesetzt, wird aus der Farce bitterer Ernst und aus der antiken Unkenruferin eine zeitgenössische Kassandra, die sich in einem furiosen Solo quer durch die Welt gräbt und zu der ernüchternden Erkenntnis kommt, dass überall dasselbe auf dem Spielplan der Weltpolitik steht: die Orestie.

Die Buhrufe zur ersten Pause waren also zumindest verfrüht, denn das eigentliche Drama beginnt, wenn im zweiten Teil das "Totenopfer" erbracht und die Generation der Eltern ausgemerzt ist. Die titelgebende Jugend trifft sich in einer Bar im Retro-Look, wo sie (nicht nur) die Zeit trockenen Fußes totschlagen können, während unter ihnen der Todefluss Styx ansteigt und die Bühne allmählich unter Wasser setzt. Wenn er mit Beginn des dritten Teils über die Ufer getreten ist und das Totenfloß des Charon vor dem Ledersofa treibt, droht sich der grausame Fluch zu erfüllen. Von den Rachegöttinnen verfolgt, flieht Orest (Christoph Luser) zu Athene (Hans Kremer) - und löst damit den nächsten Generationenkonflikt aus, weil die jüngeren Götter das "Recht" der alten infrage stellen, das stets zu neuem Unrecht geführt hat.

Die Göttin der Weisheit ergreift schließlich Partei und sühnt die Schuld der Jugend mit der Gnade des Freispruchs. Die bange Frage des Chors der arbeitslosen Erinyen "Wo ist mein Sitz?" beantwortet Athene mit dem Hinweis auf den "Ort des tiefsten Friedens", dessen Erreichung an eine einzige Bedingung geknüpft ist: "Nimm ihn an." Mit diesem Ratspruch endet ein Abend von intimer Schonungslosigkeit, der aus dem Schutt der Jahrtausende eine Utopie zu Tage fördert, die ausformuliert jenes Pathos zu bekommen droht, das in der Inszenierung stets an die Form gebunden bleibt: Den Willen der "Jugend" jedweden Alters vorausgesetzt, wird das düstere Orakel, dass die Orestie überall auf dem Spielplan der Weltpolitik stehe, zu einem Angebot der Versöhnung.

Ein vergleichbares, wenn auch ungleich unscheinbareres Theaterwunder vollzog sich mit Schnitzlers Liebelei vom Thalia-Theater. Ein lebloser Raum aus schwarzem Stein (Henrik Ahr) wird von einem Plastikvorhang verdeckt, auf dem die Gesichter der vier jugendlichen Protagonisten projiziert und in- und übereinander geschnitten werden. Wenn sie leibhaftig die Vorbühne betreten, stellen sie sich an den Rändern paarweise auf und erstarren in Gestus und Sprache, als seien sie sämtlich von der "Krankheit der Jugend" befallen - ziellos, beziehungslos, wunschlos. Christine (Maren Eggert) liebt Fritz (Hans Löw), dessen Beziehung zu einer verheirateten Frau ihn das Leben kosten wird. Mizi (Fritzi Haberlandt) liebt sich selbst und das Leben, das sie gelegentlich mit Theodor (Felix Knopp) teilt. In kurzen, kostbaren 80 Minuten lässt Michael Thalheimer diese vier sich vor allem aus dem Weg gehen und im immergleichen tonlosen Ton Sätze von größter Banalität und tiefster Sehnsucht aus sicherer Entfernung sagen.

Spannung entsteht einzig aus den unterschiedlichen Konstellationen, in denen sie den Raum gewichten und das Gefühlspendel zu dieser oder jener Seite ausschlagen lassen. Wo jede Bewegung, jede Erhebung der Stimme ein Ausdrucksmaximum ist, gräbt sich jene Szene ins Bewusstsein ein, in der Maren Eggerts Christine mit der Artistik einer Marionette wortlos um Fritz´ Liebe bettelt, um sie mit derselben Equilibristik zurückzuweisen, wenn er sie ihr Sekunden später ungefragt geben will. Auch wenn ihr das Bewusstsein dafür fehlt, erhebt sie damit den Anspruch auf eine Ernsthaftigkeit der Gefühle, die sie zu einer radikalen Außenseiterin macht. Als Fritz im Duell gefallen ist, fällt der Plastikvorhang, und Christine betritt die Vorbühne - allein. "Ich will ja gar nicht beten", widerspricht sie trotzig dem Motiv, das ihre Freunde ihr für den Wunsch unterstellen, den Leichnam zu sehen. Dann reißt sie die Arme hoch. Dunkel.

Viele Kritiken haben in dieser letzten Geste die Selbstaufgabe Christines zu einer Kopie Mizis gesehen, deren leere Posen sie zitiere. Doch nicht nur das Kostüm, das als einziges eine der reinen Grundfarben aufweist, macht denkbar, dass die Schauspielerin zumindest an diesem Nachmittag die Betonung auf jenes "sondern" legen wollte, mit dem sich der letzte Satz weiterführen lässt: Dass Christine etwas will, von dem sie selbst noch nicht weiß, macht sie zu Noras jüngerer Schwester - und dass wir darin eine Zeitgenossin erkennen, macht Maren Eggerts Leistung zu einem Höhepunkt des 40. Theatertreffens.

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