Zwischen Ohn- und Allmacht

Das Theater, der Glaube und das Video Frank Castorf entdeckt in Pitigrillis Kokain eine Droge gegen den Wirklichkeitsverlust

Ist das Gesicht, das vor Beginn auf den Vorhang projiziert wird, nicht das des jungen Gandhi, der in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein ganzes Volk zum zivilen Ungehorsam animierte? "Glauben Sie nichts von dem, was Sie hier sehen!" mahnt Tito Arnaudi (Marc Hosemann) Maddalenas Vater (Silvia Rieger), den die Suche nach seiner Tochter vor ein veritables "Pfefferkuchenhaus" geführt hat. Die Warnung scheint angebracht, ergeht sie doch erstens im Theater, zweitens in der Berliner Volksbühne und drittens in einer Inszenierung von Frank Castorf, die viertens den Titel Kokain trägt.

Als Vorlage dient der gleichnamige Roman aus den Zwanzigern, in dem der Italiener Pitigrilli (Dino Serge) eine Generation schildert, die, wie der Theaterkritiker Herbert Ihering mit Blick auf den jungen Brecht schrieb, "schwerer als irgendeine seit hundert Jahren zu kämpfen hatte. Nicht so sehr um ihre materielle Existenz. Nicht so sehr um ihre geistige Haltung. Sie musste kämpfen um das Erlebnis selbst." Exzessiver Drogenkonsum eignete sich dafür ebenso wie exzessive Sexualität.

Trotz der "Ausschweifungen", die es schildert, wäre das Buch wohl längst vergessen, wäre es nicht noch vor 20 Jahren als jugendgefährdend eingestuft worden. Als das erweist sich die Inszenierung, bei deren Premiere sich der junge Hauptdarsteller so schwer an der Hand verletzte, dass er die verspätete zweite Aufführung mit einem Verband bestritt. Immerhin ließ er sich so problemlos einer Figur zuordnen. Denn dieser oder jener Droge zugetane Journalisten sind sämtliche auf dem Besetzungszettel genannten Männer, und mit Hinweisen zur Identifizierung hält sich die Regie dezent zurück.

Bei den Frauen ist die Sachlage kaum anders. Die Umbesetzung der Rolle des Vaters kam zu spät, um sie im Programm zu vermerken, und die anderen fünf Schauspielerinnen sind in etwa so gleich jung wie ihre Figuren gleich hysterisch. Namen fallen in den pausenlosen drei Stunden selten, und vom übrigen Gesagten ist nicht allzu viel verständlich, weil das wenige Wohlformulierte überschrien und beides von einer Musik (Sir Henry) überlagert wird, die vom Rock´n´Roll bis zur Marschmusik sämtliche Stile zitiert.

Einer Zitatensammlung gleicht auch die Bühne von Jonathan Meese, der im Hintergrund einen Film ablaufen lässt, in dem Sean Connery zwar nicht James Bond, so doch beauftragt ist, die Welt zu retten. Auf die Drehbühne hat Meese ein dreidimensionales Eisernes Kreuz gelegt, auf dem die Namen "Dr. No", "Dr. Gotty" und anderer "Wunderheiler" stehen. Der Name "Caligari" findet sich dort nicht, doch dessen "Cabinet" steht für das Innere des Gebildes Pate, in das sich das Bühnengeschehen mehr und mehr verlagert. Maddalenas Vater war gewarnt, die "Lasterhöhle" zu betreten, in der die kaum Erwachsenen koksen und kotzen, sich an den Füßen aufhängen lassen und mehr dem Sex als der Liebe frönen, zu sterben glauben und ihre intimsten Lebenswünsche preisgeben. Ins Parkett jedoch wird jedes Detail per Video (Jan Speckenbach) übertragen.

Die Wirkung des Kokains wird beschrieben als eine Euphorie, in der man Fähigkeiten zu besitzen glaubt, über die man tatsächlich nicht verfügt - was sich etwa in dem Glauben äußern kann, Zeuge einer Hinrichtung gewesen zu sein, die nie stattgefunden hat. Zum Problem wird ein solches Malheur erst, wenn es einem Journalisten wie Tito widerfährt, der das Trugbild in einem Zeitungsartikel beschreibt.

Ein objektiver "Wirklichkeitsverlust" wie dieser mag nach längerem Kokainkonsum unvermeidlich sein - daran gebunden ist er nicht: Der Chefredakteur der Zeitung, für die Tito arbeitet, heißt wie ein Filmregisseur der Nouvelle Vague, Jaques Rivette (Hendrik Arnst). Die bloße Erwähnung von Marguerite Duras, Vertreterin des Nouveau Roman, verursacht hingegen allgemeine Übelkeit. Als Gegenmittel werden Ibsen und Gorki angerufen - selbst wenn deren Naturalismus schon im vorvergangenen Jahrhundert unter massivem Wirklichkeitsverlust litt. Der Name "Brecht" fällt nicht, doch dessen frühe Stücke stehen aus der Ferne Pate.

Nicht erst seit der jüngsten Premiere sind die Inszenierungen Frank Castorfs von Fragestellungen bestimmt, die sich im Stofflichen der Vorlage nicht erschöpfen. Mit Kokain jedoch fallen inhaltliche und formale Fragen in eins. Denn wie der Kokainist wähnt sich auch das Theater im Besitz von Fähigkeiten, über die es tatsächlich nicht verfügt - was sich etwa in dem Glauben äußern kann, mit einer Inszenierung von Gorkis Nachtasyl das Leben von Obdachlosen wirklichkeitsgetreu reproduzieren zu können. In seiner Hybris bestärkt wird das Theater von einem Publikum, das die Vorstellung in der Erwartung besucht, dem Leben Obdachloser beizuwohnen. Dieser doppelte Irrglaube ignoriert, dass die Bühnenrealität vom Leben ebenso kategorial unterschieden ist wie die Realität der Schauspieler von der ihrer Figuren: Sprächen die Darsteller von Kokain der titelgebenden Droge so ungeniert zu, wie es im Buche steht, wäre die Inszenierung über das Probenstadium kaum hinausgekommen.

Will das Theater mit dieser "Lebens"-Lüge brechen, kann es sich genötigt sehen, große Teile des Geschehens ins Innere des Bühnenbildes zu verlagern und per Video so gezielt ins Parkett zu übertragen, dass eine Verwechslung mit dem "Leben" vernünftigerweise ausgeschlossen ist. Doch wie radikal sich eine Inszenierung der Erwartungshaltung "Theater" auch verweigert - zu vergessen, dass es Theater bleibt, hieße, multimedialen Allmachtsfantasien und damit jener Hybris zu erliegen, der zu entsagen es angetreten war.

Deshalb bietet es sich an, die Bühne zum Ende hin so zu drehen, dass sich ihr Inneres einsehen lässt: Ohne dass es sich über das Videobild vermittelte, haben die Kokainisten ihre "Lasterhöhle" so weit demoliert, dass der Abend als klassisches Theater enden kann, dessen vierte Wand im Wortsinn zum Einsturz gebracht wurde.

Für diesen Gewinn an Bühnenrealität zahlen vor allem die Schauspieler einen hohen Preis. Denn auch wenn sie nicht wirklich kotzen, koksen und mehr dem Sex als der Liebe frönen - ekelige Flüssigkeiten in den Mund nehmen, aufeinander herumspringen und ein weißes Pulver inhalieren müssen sie sehr wohl. Und dass sie sich an den Füßen aufhängen lassen ist ebenso wenig ein Trugbild wie das der Kamera, die sie auf Schritt und Tritt verfolgt.

Sie dieser Tortur im Namen anderer auszusetzen wäre blanker Zynismus. Deshalb tut die Regie gut daran, die Zuordnung von Darsteller und Figur zu erschweren, indem sie sich mit Hinweisen wie Namen zurückhält, das wenige Wohlformulierte überschreien und das Gemenge von einer Musik überlagern lässt, die nicht nur als Zitat fungiert. Vor allem in jener Szene nicht, in der Maddalena antritt, sich ihren intimsten Lebenswunsch zu erfüllen. "Ich will tanzen", hatte sie ihn am Telefon benannt. Als die Zeit der Erfüllung gekommen ist, zeigt die Kamera ein Gesicht, in dem sich einzig der Mund bewegt, und aus den Lautsprechern erklingt ein Chanson in der Tradition von Jacques Brel und Edith Piaf: nicht so, doch mit derselben Intensität gesungen.

Stimme und Gesicht gehören der Schauspielerin Kathrin Angerer. Ihr ist auch das Schlussbild vorbehalten, für das sie ein Dach erklimmt, das noch immer das eines Eisernen Kreuzes ist. "Mich gruselt´s beim Anblick meines Vaterlandes", sagt sie im Geiste jener Wunderheiler, deren Kunst ebenso unter das Betäubungsmittelgesetz fällt wie das Kokain, ehe sie Dornröschen-gleich hinzufügt: "Am besten wäre es, im tiefen Rausch am Meeresstrand zu schlafen."

"Glauben Sie nichts von dem, was Sie hier sehen!" So gewarnt, hatte sich Maddalenas Vater gehütet, die Lasterhöhle der Kokainisten zu betreten - und die Tütchen mit dem Nachschub davor verteilt. Ins Parkett jedoch wurde jedes Detail per Video übertragen. Das Gesehene zu leugnen hieße, dem Theater eine Fähigkeit abzusprechen, über die es nicht erst neuerdings verfügt: "Mauerschau" heißen seit der Antike jene Verfahren, mit denen es Vorgänge und Sachverhalte anschaulich machen kann, die unter den Bedingungen der Bühne eigentlich unsichtbar bleiben müssen.

Castorfs letzte Inszenierung hieß Forever Young, was mit dem Wunsch nach ewiger Jugend treffend übersetzt ist. Kokain wirft den Blick über die Mauer auf die Wirklichkeit einer Generation, die weniger mit den Folgen eines Rausches als um "das Erlebnis selbst" zu kämpfen hat. Exzessiver Drogenkonsum mag sich dafür ebenso eignen wie exzessive Sexualität, der Schlaf des Vergessens oder ziviler Ungehorsam. Doch nicht erst seit den Zwanzigern ist auch die Kunst ein probates Mittel.


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