Allseits vermintes Gelände

Die "Fremdarbeiter"-Debatte - Kontexte und Konstruktionen Wollte man den Lafontaine-Kritikern aus dem rot-grün-liberalen Milieu folgen, müsste auch Willy Brandt glatt zum Rassisten erklärt werden

Noch bevor der Wahlkampf richtig begonnen hat, löste Oskar Lafontaine mit der Verwendung des Wortes "Fremdarbeiter" einen medialen Sturm aus. Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) warf Lafontaine vor, "seine Wähler bei den Neonazis" zu suchen, und empfahl für den Wiederholungsfall, den Verfassungsschutz auf Lafontaine anzusetzen. Das ist für das Mitglied einer Partei, die mit einer beispiellosen Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft die miesesten Ressentiments gegen Ausländer schürte - und damit Anfang 1999 die hessischen Landtagswahlen gewann -, ein starkes Stück Heuchelei. Es ist im Übrigen nicht anrüchig, wenn eine neue demokratische Partei wichtige Themen wie die Einwanderung und die Arbeitsemigration aufgreift, um die sich bislang nur rechte Parteien in obendrein demagogischer Weise kümmern. Wie anders können die vom neoliberalen Alt-Parteien-Kartell enttäuschten Wähler, die als Protestwähler nach rechts gingen, zurückgewonnen werden? Solange die neue Linkspartei das nicht mit der Mobilisierung von rassistischen, religiösen, ethnischen oder nationalistischen Ressentiments gegen Ausländer tut, ist dagegen gar nichts einzuwenden.

Die völlig überrissenen Kommentare, die Lafontaine zu einer Art Kryptonazi stempeln, belegen nur eines: Es ist Wahlkampf, und der neoliberale Parteien-Trust von der CDU/CSU über die FDP bis zu den Grünen und der SPD hat kalte Füße bekommen. So schnell haben sich Parteien noch nie von neoliberal auf sozial umgeschminkt. Den Vogel schossen dabei die Grünen ab, die sieben Jahre lang alles abgenickt haben und nun mit dem gleichen Personal als "moderne linke Partei" auftreten möchten.

Ob Lafontaine der Begriff "Fremdarbeiter" zufällig ("ich spreche frei") unterlaufen ist oder ob er damit ein taktisches Kalkül verband, ist unerhebliche Kaffeesatzleserei fürs Feuilleton. Ernst zu nehmen ist jedoch sein Versuch, die Verwendung des Begriffs nachträglich zu rechtfertigen. Hier liegt er historisch falsch. Natürlich ist "Fremdarbeiter" kein "Nazi-Begriff", wie ein schlichter Kommentar in der ZEIT (23.6.2005) meinte. Der Begriff entstand Ende des 19. Jahrhunderts. Richtig ist, dass ihn die Nazis übernahmen und - wie der Historiker Ulrich Herbert dargelegt hat - in rund 600 Einzelerlassen verwendet haben. Was folgt daraus? Oskar Lafontaines aus der Hüfte geschossener Rechtfertigungsversuch, wonach bei den Nazis eine völkisch-rassistische und eine "nur" fremdenfeindlich unterlegte Verwendung des Begriffs "Fremdarbeiter" unterschieden werden müsse, ist abwegig. Die Pointe des nationalsozialistischen Wortgebrauchs war doch gerade, dass er als Sammelbegriff für ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene, Ostarbeiter, jüdische Häftlinge und andere Kategorien von Zwangsarbeitern diente und in jedem Fall eine völkisch-rassistische Komponente enthielt.

Natürlich kann man die deutsche Sprache nicht in dem Sinne entnazifizieren, dass man alle Wörter, die von den Nazis je gebraucht wurden, zum Tabu erklärt. Aber Schlüsselbegriffe wie den des "Fremdarbeiters" sollte hierzulande nicht mehr verwenden, wer als historisch und politisch aufgeklärt gelten will.

Abgesehen von dieser spezifisch deutschen Geschichte ist für Linke die Mobilisierung von Ressentiments gegen Fremde, Ausländer und Andersgläubige immer selbstmörderisch. Als Lionel Jospin 2002 gegen Jacques Chirac im Präsidentschaftswahlkampf ins Hintertreffen geriet, forcierte er spontan das Sicherheitsthema. Chirac radikalisierte aber das Thema dermaßen brutal, dass Jospin zurückstecken musste, wollte er nicht seine Stammwähler brüskieren. Die Gewinner waren Le Pen und der Front National. Nach Lafontaines Chemnitzer Rede sagte Peter Marx, der Wahlkampfleiter der NPD: "Da Oskar Lafontaine dankenswerterweise den Begriff ›Fremdarbeiter‹ enttabuisiert hat, werden wir ihn verstärkt im Wahlkampf einsetzen" - und in diesem Wettstreit kann Lafontaine nur verlieren.

Nach 1945 blieb der Begriff "Fremdarbeiter" im Gebrauch, was kein Argument für seine Legitimität ist, sondern nur ein Indiz für die Normalisierungs- und Schlussstrichmentalität der Adenauer-Ära. Erst Anfang der sechziger Jahre wurde umgesteuert. Mehr ökonomisch als egalitär-humanitär sensible Leute erfanden den Begriff "Gastarbeiter". Ein durchaus zwiespältiges Unternehmen, denn neben der Verabschiedung der nationalsozialistisch kontaminierten Fremdarbeiter-Terminologie kaschierte die Neuschöpfung die realen sozialen Zustände. Mit der Adelung der ausländischen Arbeiter zu "Gästen" war weder eine rechtliche Gleichstellung noch eine soziale Anerkennung verbunden, sondern einzig und allein die Hoffnung, die "Gäste" in konjunkturell schlechten Zeiten wieder abschieben zu können. Mit Hilfe aus Brüssel blieben sie. Die semantische Umtaufe war nur eine ohnmächtige Reaktion auf die Feststellung von Max Frisch: "Wir haben Arbeitskräfte gerufen, und es sind Menschen gekommen", und die haben die Gewohnheit, dort zu bleiben, wo sie ein Auskommen haben. Der neue Name änderte am Umgang der Mehrheit mit den Zugewanderten fast nichts. Noch 1966 sprach der "Fachverband für Theater, Film, Fernsehen, Show, Event" in seiner Zeitschrift von "Fremdarbeitern im bühnentechnischen Betrieb".

Aber das Wort ist nicht das Problem. Der Rechtfertigungsversuch Lafontaines für seinen Sprachgebrauch bleibt historisch abwegig. Aber er hat ohne jeden Zweifel ein reales Problem der EU-Osterweiterung angesprochen. Der Druck auf die Löhne von Handwerkern und Arbeitern durch Einwanderer aus Polen, Tschechien, der Slowakei und anderen Ländern ist gestiegen und wird weiter steigen. Das ist nicht zu bestreiten und bildet eine sozialpolitische Herausforderung für jede Regierung.

Das wurde schon mit dem konjunkturellen Einbruch deutlich, den die erste Ölkrise verursachte. Sie fiel zusammen mit der Regierungserklärung von Willy Brandt 1973. Darin hieß es im Zusammenhang mit der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte, "daß wir sehr sorgsam überlegen müssen, wo die Aufnahmefähigkeit erschöpft ist und soziale Vernunft und Verantwortung Halt gebietet." Brandt sprach immer von "ausländischen Arbeitnehmern" und verzichtete auf die schönfärberische Vokabel "Gastarbeiter". Im Gespräch mit dem französischen Historiker Joseph Rovan im gleichen Jahr äußerte sich Brandt freimütig darüber, was am Arbeitsmarkt, in der Sozial- und Wohnungsbaupolitik getan werden müsse, um "ein europäisches Negerproblem" zu vermeiden. Wollte man den geifernden Lafontaine-Kritikern aus dem rot-grün-liberalen juste milieu folgen, müsste man Willy Brandt glatt zum Rassisten erklären.

Kein Wortgebrauch ist unabhängig vom historischen Kontext. Im Kaiserreich hießen polnische Landarbeiter "Sachsengänger", und die chinesische Einwanderung in die USA diskutierte man in der Partei August Bebels unbefangen als "Kuli-Frage".

Mit dem historischen Kontext beziehungsweise der ganz anders verlaufenen Geschichte hängt es auch zusammen, dass man in der Schweiz die Wende zum verlogenen "Gastarbeiter" in den sechziger Jahren nicht mitmachte. Quer durch das politische Spektrum heißen dort ausländische Arbeiter immer noch "Fremdarbeiter", und man kann die Eidgenossen deshalb nicht zu einem Volk von Neonazis stempeln. In einem Schweizer Lexikon aus dem Jahre 1975 steht zum Beispiel: "Die Fremdarbeiterpolitik des Bundesrates (der Regierung - R.W.) steht ganz eindeutig unter dem Druck des Volkes", das 1969 mit 46 Prozent einer Initiative zustimmte, die den Ausländeranteil bei zehn Prozent einfrieren wollte. Heute liegt er bei knapp 20 Prozent. Besonders erfolgreich waren die Ideologen der "Überfremdung" offensichtlich nicht, aber Ausländer blieben "Fremdarbeiter".

Sogar die Emigranten in der Schweiz haben sich den Begriff zu eigen gemacht. Italienische und spanische Emigranten-Organisationen fordern beispielsweise in einem Flugblatt, "dass die Fremdarbeiter das Recht erhalten, über den Inhalt der Reform der Altersvorsorge und über alle Fragen, welche sie direkt betreffen, mitzuentscheiden." Das sah übrigens schon Lenin so, dem der große Anteil an ausländischen Arbeitern in der Schweiz auffiel. Als er 1916 das Land verließ, empfahl er den Schweizer Sozialdemokraten, gegen "die politische Rechtlosigkeit der ausländischen Arbeiter und deren Lage als Fremde" zu kämpfen, um "die Entfremdung" zwischen schweizerischen und ausländischen Arbeitern zu verhindern, denn das stärke nur "die politische Reaktion".

Wenn man von Assoziationen absieht, die mit der Vokabel "Fremdarbeiter" hierzulande automatisch transportiert werden und gegen die man sich nur absichern kann, indem man - anders als Oskar Lafontaine - mit triftigen Argumenten die Vergleichbarkeit der historischen Kontexte kritisch reflektiert, trifft der Begriff "Fremdarbeiter" einen richtigen Sachverhalt. Nicht-deutsche Arbeitskräfte sind nach wie vor Fremde im dreifachen Sinne.

Erstens unterliegen sie zusätzlich zu den für alle geltenden Gesetzen einem Spezialregime - dem Ausländerrecht. Und das hat es, was die Schikanen und die Willkür betrifft, in sich - bis hin zur Ausweisung beziehungsweise zur Nicht-Verlängerung von Aufenthaltsberechtigungen. Diese können verweigert werden, wenn sich der Ausländer "falsch" verhält, wobei die Kriterien dafür ziemlich diffus sind. All die feinfühligen Kommentatoren, die gleich Joseph Goebbels wittern, wenn sie "Fremdarbeiter" hören, sollte man einfach einmal einen Morgen lang auf die Ausländerbehörde einer deutschen Großstadt schicken. Das ist kein rechtsfreier, aber ein sehr bizarr strukturierter Raum der systematischen Demütigung, wo oben und unten, innen und außen, Herr und Knecht klar geschieden sind wie in einem kafkaesken Obrigkeitsstaat: der eine hat den Stempel, der andere hält am besten den Mund.

Zweitens haben ausländische Arbeiter nicht nur keine politischen Rechte, sondern unterliegen - seit Schily und Beckstein sich darin überbieten - immer mehr einem Generalverdacht politischer Unzuverlässigkeit und Gefährlichkeit. Deren Parole: Je nicht-weißer und un-christlicher, desto terroristischer. Der Fremde ist heute europaweit so "rechtlos" und so weit von "politischer Gleichberechtigung" entfernt, wie es Lenin den Schweizer Sozialdemokraten 1916 ins Stammbuch schrieb.

Drittens sind der ausländische Arbeiter, seine Frau, seine Kinder und Kindeskinder, gesellschaftlich und was den Zugang zu Bildung und Kultur betrifft, weitgehend Ausgeschlossene und Ausgegrenzte. Sicher gibt es in zweiter und dritter Generation hier aufgewachsene Nachkommen von Emigranten, die es geschafft haben, das große Arsenal von Hindernissen, Fallen und ungeschriebenen Codes zu überwinden. Aber die Mehrheit der Ausländer bleibt in allen drei Dimensionen - rechtlich, politisch, kulturell-gesellschaftlich - nach wie vor genau eines: Bürger zweiter Klasse - Fremde eben. Und das liegt mehr an "uns", als an ihnen.


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