Brieftauben an Stalin

Zeitgeschichte Henri Martin, der als 17-Jähriger für die Résis­tance kämpft, wehrt sich gegen den französischen Kolonialkrieg in Indochina und wird im Oktober 1950 exemplarisch bestraft

Für Frankreich geht im Mai 1945 der Zweite Weltkrieg sozusagen in den Indochina-Feldzug über. In Hanoi hat Ho Chi Minh als Führer der Viet Minh am 2. September 1945 die unabhängige Republik Vietnam ausgerufen, nachdem der König abdanken musste. Ab Januar 1946 bekämpfen britische und französische Truppen gemeinsam den neuen Staat in Südostasien, der Laos und Kambodscha ein Beispiel sein könnte. So sorgen die Franzosen am 1. Juni 1946 mit der Republik Cochinchina für ihren eigenen Staat. Am 23. November bombardieren sie von dort aus den Hafen Haiphong im Norden und beginnen einen Krieg gegen die Unabhängigkeit Vietnams, den die USA nach dem Abzug der alten Kolonialmacht 1954 zwei Jahrzehnte lang mit unterschiedlicher Intensität fortführen. Bis zum Pariser Friedensabkommen vom Januar 1973 werden das über 58.000 amerikanische Soldaten und drei Millionen Vietnamesen nicht überleben. Parallel zu den Geschehnissen in Indochina bricht in Madagaskar am 30. März 1947 ein Aufstand gegen die Kolonialmacht aus, den die französische Armee blutig niederkämpft – mit dem Resultat, dass 60.000 bis 80.000 Madagassen sterben.

Alte Pétain-Anhänger

Diese beiden Kolonialkriege bilden den Hintergrund der „Affäre Henri Martin“ im französischen Mutterland. Der 1927 geborene Martin ist der Sohn eines Gießerei-Arbeiters und wird streng katholisch erzogen. Als 17-jähriger Lehrling stößt er im Untergrund zur Résistance und lässt sich von den Franc-Tireurs et Partisans Français rekrutieren, die 1944 das mittelfranzösische Departement Chers aus eigener Kraft von deutscher Besatzung befreien. Im Dezember des gleichen Jahres meldet sich Henri Martin freiwillig für fünf Jahre zur Marine. Ihn lockt das Versprechen, es gelte nun, die japanischen Truppen, die Verbündeten Hitlers, aus Indochina zu vertreiben. Nach einer Grundausbildung verlässt er Frankreich am 17. Oktober 1945 an Bord eines französischen Kriegsschiffs, das Kurs auf das Südchinesische Meer nimmt.

Zu diesem Zeitpunkt liegt die Kapitulation Japans vom 16. August 1945 schon zwei Monate zurück, und in Vietnam gewinnen die Viet Minh an Einfluss. Der zunächst mehr von Idealen als von der Politik motivierte Martin erkennt bald, dass die französische Armee – zum großen Teil von alten Pétain-Anhängern kommandiert – keinen Befreiungs-, sondern einen Unterdrückungskrieg führte. Er schreibt am 23. Mai 1946 nach Hause: „Wir benehmen uns in Vietnam wie die Boches (Schimpfwort für die deutsche Besatzung – RW) früher bei uns.“ Kurze Zeit später berichtet er: „Heute haben wir eine hübsche Bilanz auf unseren Aktivposten. Ein getötetes Kind und eine verwundete Frau, ganz zu schweigen von den anderen Verwundeten, die in den Reisfeldern geblieben sind. (…) Warum plündern, brandschatzen und morden unsere Soldaten? Um zu zivilisieren?“ Ihm entgeht nicht, dass „all das nur geschieht, weil eine Bande von Großagrariern Privilegien behalten will.“ Martins Briefe an Eltern und Geschwister sowie andere Dokumente und Statements von Intellektuellen veröffentlicht Jean-Paul Sartre 1953 in seinem Buch zur Affäre Henri Martin. Noch im gleichen Jahr erscheint im Ostberliner Verlag Volk und Welt eine deutsche Übersetzung unter dem Titel Wider das Unrecht. In Westdeutschland wird das Buch 1983 von Traugott König als vierter Band einer Sartre-Werkausgabe publiziert.

Martins drittes Versetzungsgesuch wird schließlich bewilligt. Im November 1947 kehrt er als schwer Enttäuschter und Getäuschter nach Frankreich zurück, bleibt aber Soldat – damit beginnt die „Affäre Henri Martin“. Auf dem Marinestützpunkt Toulon verteilt und klebt der Rückkehrer im Sommer 1949 Flugblätter, in denen die Soldaten aufgefordert werden, die Einschiffung nach Indochina zu verweigern. Am 13. März 1950 wird er verhaftet mit einem Packen Flugblätter, auf denen zu lesen ist: „Keinen Mann, keinen Sou mehr für diesen schmutzigen Krieg.“ Martin hat sich der Kommunistischen Partei (KPF) genähert, die damals als einzige große Gruppierung in Frankreich den Indochinakrieg prinzipiell ablehnt und Verhandlungen mit der Befreiungsbewegung Viet Minh fordert.

Picassos Porträt

Es kommt zum Prozess vor einem Kriegsgericht in Toulon, das eindeutig instrumentalisiert wird. Die Militärpolizei hatte Martin längst als Kommunisten und Kriegsgegner im Visier, verhaftete ihn aber erst, nachdem am 11. März 1950 Artikel 76 des Strafgesetzbuches so verändert war, dass „Unternehmen der Demoralisierung der Armee“ zum Straftatbestand wurden.

Weil Martin Positionen vertritt, die mit denen der KPF identisch sind, konstruieren Staatsanwaltschaft und Richter im Prozess ein „Unternehmen“, das direkt von Moskau dirigiert wurde. Das geänderte Gesetz widerspricht eindeutig dem juristischen Prinzip, das eine rückwirkende Geltung von Strafgesetzen verbietet. Man dürfe es nur anwenden, sollte „es im Vergleich zur älteren Gesetzgebung mildere Strafen androhen“ – argumentiert die Verteidigung Martins. Tatsächlich sieht das novellierte Gesetz eine erhebliche Strafverschärfung vor. Martin wird so am 17. Oktober 1950 in erster Instanz zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt statt zu einer bloßen Disziplinarstrafe, wie sie für das Verteilen von Flugblättern bis zum 11. März vorgesehen war. Das skandalöse Urteil löst einen Sturm der Entrüstung aus, den die KPF zu einer gut orchestrierten Kampagne unter dem Slogan Freiheit für Henri Martin! und gegen die Kolonialpolitik nutzt. Michel Leiris und Simone de Beauvoir solidarisieren sich ebenso mit Martin wie die Schriftsteller Jacques Prévert und Jean Cocteau. Pablo Picasso malt ein Porträt Martins, sechs Bilder anderer Maler werden vom Kunstsalon 1951 ausgeschlossen, Paul Éluard und Louis Aragon verfassen Gedichte über ihn, Serge Nigg und Françoise Monod komponieren die Kantate für Henri Martin. Kurzum, aus dem Marinesoldaten wurde ein heroisches Denkmal aus „blütenweißem Marmor“ gemeißelt, schreibt die Sartre-Biografin Annie Cohen-Solal. Wenn man das propagandistische Beiwerk abzieht, bleibt jedoch noch reichlich Platz für den vorbehaltlosen Respekt vor dem Widerstandskämpfer und idealistischen Jungkommunisten.

Hunderte von Intellektuellen verlangen eine Revision des Urteils und die Rehabilitierung Martins, der offenkundig einer damals beliebig abrufbaren antikommunistischen Stimmungsmache zum Opfer fällt. Im Windschatten des McCarthyismus und der Todesurteile gegen Ethel und Julius Rosenberg in den USA kommt es zu grotesken Vorfällen. So wird Jacques Duclos, Generalsekretär der KPF, bei einer Friedenskundgebung verhaftet und ernsthaft mit dem Vorwurf konfrontiert, die mitgeführten Tauben dienten als Briefträger zu Stalin und zum Kreml.

Der zweite Prozess im Juli 1951 geht in diesem Klima über die Bühne und bestätigt den ersten Richterspruch, obwohl sich Martin geschickt verteidigt: „Man spricht von nationaler Verteidigung: aber die nationale Verteidigung wird auf dem Boden der Nation und nicht in 20.000 Kilometern Entfernung organisiert. In Indochina verteidigt man lediglich die Profite der Kapitalisten. (…) Es ist also ein für das französische Volk sinnloser Krieg.“ Am 2. August 1953 kommt Martin schließlich in den Genuss eines Straferlasses wegen „guter Führung“. Weder das Ersuchen um Begnadigung noch die Bitte um Rehabilitierung haben zuvor Gehör gefunden. „In den Augen der Staatsorgane bleibt Martin ein Krimineller, der es nicht verdient, begnadigt zu werden“, schreibt Sartre. Er rechnet in einem Kommentar zur Affäre mit der „Wurschtigkeit, Dummheit und Käuflichkeit“ der französischen Politik ebenso sarkastisch ab wie mit der vom dumpfen Antikommunismus geblendeten Justiz: „Ihr sagt, dass Martin Verrat übe, weil er will, dass ihr Frieden schließt. Ich folgere daraus, dass sich Frankreichs Schicksal in Indochina entscheidet und dass man entweder Saigon behalten oder Paris verlieren muss.“

Rudolf Walther schrieb zuletzt im Freitag über die Geschichte der Staatsschulden

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