Zu den Geburtsfehlern der V. Republik, die 1958 entstand, gehört das bis heute geltende Mehrheitswahlrecht mit Einerwahlkreisen. Es benachteiligt kleine Parteien im Namen einer längst zum politischen Phantom gewordenen, auf dem Antifaschismus beruhenden „republikanischen Front“, die von Konservativen (Gaullisten), Liberalen, der Präsidentenpartei La République En Marche (LREM) und Sozialisten gebildet wird beziehungsweise werden soll. Bezogen auf die derzeitigen Parteien sind Les Républicains (LR) und der Parti Socialiste (PS) die Pole jenes Spektrums. Diese Front machte nach 1945 demokratisch legitimierte Ambitionen der Kommunistischen Partei (KPF) zunichte, seit über 30 Jahren werden dadurch die Ansprüche der gemäßigten Rechten wie
Der Wiederholungstäter
Frankreich Emmanuel Macron will 2022 erneut gewählt werden und verzichtet auf die versprochene Wahlrechtsreform

Wie kein Präsident vor ihm hat Macron sein Amt heruntergewirtschaftet und Glaubwürdigkeit verspielt
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wie der radikalen Ultras des Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen auf parlamentarische Repräsentation qua Wahlrecht zum aussichtslosen Unterfangen.Dank dieses Wahlsystems kam Präsident Macron im Juni 2017 mit 29 Prozent der Stimmen für seine LREM zusammen mit dem alliierten Mouvement démocrate (MoDem) auf 75 Prozent der Parlamentssitze, während Le Pens Partei mit 13,2 im ersten bzw. 8,8 Prozent im zweiten Wahlgang nur acht Mandate errang. „Demokratie geht anders“, sagt man außerhalb Frankreichs. Auch das mag Marcon seinerzeit zu seinem Wahlversprechen bewogen haben, für künftige Abstimmungen „eine Dosis Verhältniswahlrecht“ einzuführen.Gegenspieler PhilippeEnde März allerdings haben er und seine parlamentarischen Verbündeten – die Gruppe Agir und der Mouvement démocrate – angekündigt, diese Zusage nicht zu erfüllen. Demnach wird das Wahlrecht in der laufenden Legislaturperiode und vor der Präsidentenwahl im nächsten Jahr nicht mehr reformiert. Völlig überraschend kommt das nicht. Macron und sein Regierungsstil stehen für vieles, jedoch nicht für mehr Demokratie. Häufig beschwört er hingegen ein Mehr an „Verticalité“, ein Durchregieren von oben, das gegen die Bewegung der Gelbwesten ebenso zum Tragen kam wie seit 14 Monaten gegen die Corona-Pandemie.Macrons Absage an eine Wahlrechtsreform mutet an wie der Versuch, für 2022 den nächsten Wahlsieg abzusichern. Die parlamentarische Mehrheit könnte unter diesen Bedingungen La République En Marche erhalten bleiben, hofft der Präsident. Sollte es erneut zu einer Stichwahl gegen Marine Le Pen kommen, wird auf die Durchschlagskraft des Phantoms der republikanischen Front vertraut. Doch könnte sich Macron genau damit verrechnen. Die informelle Allianz zum Schutz der Republik ist alles andere als stabil, wofür wenigstens drei Gründe ausschlaggebend sind. Zunächst einmal liebäugeln Politiker am rechten Rand der Konservativen nicht nur auf kommunaler Ebene mit dem Rassemblement National. Es müssten jedoch viele konservative Wähler Macrons wie der imaginierten republikanischen Front abspringen und zu Le Pen überlaufen. Zweitens ist der als sicher eingestufte Beitrag der konservativen Republikaner zu Macrons Wiederwahl mitnichten garantiert. Vor Wochen meldete Xavier Bertrand, Ex-Minister und Präsident des Regionalrats von Hauts-de-France, seine Ambitionen öffentlich an, selbst zu kandidieren. Auch trat Ex-Premierminister Édouard Philippe mit seinem Buch Impressionen und klare Linien an die Öffentlichkeit. Darin erinnert der Autor Präsident Macron an General de Gaulle und dessen Geschäftsgrundlage für die Verfassung von 1958, wonach Präsidieren und Regieren zwei verschiedene Dinge seien. In Philippes Buch wird das so ausbuchstabiert: „Die V. Republik ist eine Doppelherrschaft mit zwei Köpfen, dem Präsidenten und dem Premierminister, die letztlich nichts machen können ohne den anderen. Sie müssen sich verständigen.“ Das misslang zwischen Macron und Philippe gründlich, worauf Letzterer nach der verlorenen Kommunalwahl im Juni 2020 seinen Rücktritt anbot und ging.Man kann Philippes Buch getrost als Hinweis deuten, dass die konservativen Republikaner die republikanische Front aufkündigen wollen. Das Gerücht, er werde 2022 nicht gegen Macron kandidieren, wies Philippe mit einem Satz zurück, der so ziemlich alles offen lässt: „Ich bin mir nicht sicher, dass ich das öffentlich geäußert habe.“ Im Gegensatz zu anderen Ministern Macrons war Philippe nie der Präsidentenpartei LREM beigetreten, sondern hatte stattdessen betont: „Ich bin ein freier Mensch.“ Kein Provinzpolitiker, genießt er als anerkannter Bürgermeister von Le Havre über Parteigrenzen hinweg Ansehen und Popularität, wovon der derzeitige Staatschef nur träumen kann. Wie kein Präsident vor ihm hat Macron sein Amt buchstäblich heruntergewirtschaftet und Glaubwürdigkeit verspielt. Gäbe es einen gemeinsamen, politisch überzeugenden Bewerber aller linken Parteien, würden seine Wahlchancen 2022 deutlich abnehmen. Man denke an die bemerkenswerten 19,6 Prozent für Jean-Luc Mélenchon, den Chef der Linkspartei La France Insoumise (FI/Unbeugsames Frankreich), in der ersten Runde des Präsidentenvotums von 2017. Damals hätte das fast zum Einzug in die Stichwahl gereicht.Le Pen stagniertLeider ergibt sich der dritte Grund für die Unwägbarkeiten des kommenden Wahljahres aus dem desolaten Zustand der Linken, wodurch der linke Flügel der republikanische Front erkennbar geschwächt ist. Bei den Sozialisten – genauer: dem kläglichen Resten der einst stolzen Partei von Jean Jaurès, Gaston Defferre und François Mitterrand – herrscht eine groteske Unübersichtlichkeit, die Macron bei der Wiederwahl gefährlich werden kann. Ein halbes Dutzend von Lokal- oder Regionalpolitikern des Parti Socialiste (PS), der mittlerweile keine 100.000 Mitglieder mehr zählt, versucht sich als Präsidentenbewerber zu profilieren. Die so diffuse wie entmutigende Lage könnte viele linke Wähler in Richtung Wahlabstinenz driften lassen und so Macron indirekt schaden. Einige linke Aspiranten mögen zudem in der linksliberal-urbanen Wählerschaft Macrons Stimmengewinne erzielen. Jean-Luc Mélenchon zum Beispiel, der sich bereits 2008 aus dem „alten Haus“, wie er es nannte, der republikanischen Front verabschiedet hat. Er wird seine Anhänger keinesfalls ermuntern, sich beim zweiten Wahlgang des Präsidentenvotums von 2022 noch einmal für Macron als das „kleinere Übel“ zu entscheiden – ob bei der Stichwahl Marine Le Pen gegen ihn antritt oder nicht. Damit könnten die Chancen des Amtsinhabers erheblich sinken. Und die republikanische Front würde sich einmal mehr als das erweisen, was sie wirklich ist – eine Fiktion mit dem einzig realistischen Ziel, kleine Parteien zu behindern und jenseits der Nationalversammlung zu halten.Placeholder infobox-1Eine derart triumphale Wahl, wie sie dem Neogaullisten Jacques Chirac am 5. Mai 2002 mit über 80 Prozent der Stimmen in der Stichwahl gegen den Rechtsradikalen Jean-Marie Le Pen zuteil wurde, wird sich nicht wiederholen. Von Macron fühlen sich besonders die linken Wähler des republikanischen Lagers instrumentalisiert. Ihre Mithilfe bei dessen Wahl zum Präsidenten 2017 zahlte sich für sie in keiner Weise aus. Im Gegenteil: Auf kommunaler und regionaler Ebene schwenkten Konservative zu Le Pen ab und desavouierten die vermeintliche Einheit der Demokraten gegen rechts. Für diese Erfahrung erscheint es eher zweitrangig, dass Marine Le Pens Rechtsnationalisten seit Jahren stagnieren, bei etwa 25 Prozent verharren und keine realen Aussichten auf einen Bündnispartner haben, zumindest auf nationaler Ebene nicht.Emmanuel Macron ist nicht zu beneiden. Das konservierte Wahlrecht garantiert ihm weder eine sichere Wiederwahl noch eine sichere Abwehr der Gefahr von rechts außen, weil das historische Muster einer republikanischen Front der Demokraten der Vergangenheit angehört. Die konservativen Verbündeten des Präsidenten schielen nach rechts oder wollen wie Édouard Philippe ihrem Ehrgeiz genügen. Mögliche linke Unterstützer zerlegen sich selbst oder bluten langsam aus, was besonders für die Sozialisten gilt. Seit der alles andere als glücklichen Präsidentschaft von François Hollande (2012 – 2017) stecken sie strategisch in einem Dilemma. Der Rückgriff auf das Schema rechts/links funktioniert nicht mehr, nachdem auch Bürgerlich-Konservative und gemäßigt Rechte den Wohlfahrtsstaat kaum noch fundamental angreifen. Und der modische Trend, sich möglichst „divers“ aufzustellen, bietet keine Gewähr, den ersehnten gemeinsamen Kandidaten einer modernen Linken zu finden.