Die Hefe zum Teig

Leitkultur statt Butter Gegen leere Kassen und Mägen empfiehlt die Union die ganz anderen Genüsse

Das Geflügel muss zurück in die Ställe, das Staatsdefizit bleibt auf Rekordkurs, und die Politik treibt wieder einmal eine etwas ältere Sau durch die Medienlandschaft. Der neue Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) reanimiert in einem Interview den Begriff "Leitkultur", um "die geistige Verfassung der Nation" zu erfragen. Und Christoph Böhr, Spitzenkandidat der CDU für die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz Anfang 2006, beklagt den Mangel eines "gesellschaftspolitischen Leitbildes" in der Partei und macht dieses Defizit als "eigentliche Ursache" für Angela Merkels Wahlniederlage aus.

Lammert bedauert ausdrücklich das abrupte Ende einer ersten Leitkultur-Debatte vor sieben Jahren. Die war kurz nach dem Wahlsieg von Rot-Grün im Herbst 1998 ausgebrochen, als gerade das Einbürgerungsrecht sowie die Zuwanderung neu geregelt werden sollten. Jörg Schönbohm - seinerzeit Innensenator in Berlin - hatte das rot-grüne Gesetzesvorhaben "ein trojanisches Pferd" genannt. "Rot-Grün und die PDS" wollten sich damit "neue Wählerschichten erschließen" und "eine strategische Mehrheit auf längere Sicht sichern". Er lehnte stattdessen jede Doppel- beziehungsweise Mehrstaatlichkeit ab und formulierte als Bedingung für die Einbürgerung "die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse" und "die ausschließliche Hinwendung zum deutschen Staat". Zunächst blieb Schönbohm mit seinem bizarren Verdikt, Einwanderer müssten sich zum "deutschen Staat hinwenden" und "kulturell einordnen", ziemlich allein. Das änderte sich, als Roland Koch wenig später die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft vor den hessischen Landtagswahlen als wohlfeiles Thema entdeckte. Kochs Erfolg gab den Demagogen im Lande - auch rechts von der CDU - Auftrieb.

Friedrich Merz, seinerzeit Fraktionsvorsitzender von CDU/CSU im Bundestag, sprang Ende Oktober 2000 auf den fahrenden Zug und belebte die wabernde Debatte mit dem Gerede von der "deutschen Leitkultur". Der Begriff schaffte es bis in ein Eckpunkte-Papier von CDU-Präsidium und Vorstand. Für CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer war "Leitkultur" gar das Vorspiel für eine große Aussprache über "Begriffe wie Nation und Patriotismus", und der saarländische Ministerpräsident Peter Müller schlug vor, die Zuwanderungspolitik zum Gegenstand eines Volksentscheids zu machen. Angela Merkel stellte sich zunächst hinter Merz und meinte, allein die Tatsache, dass sich der politische Gegner über den Begriff aufrege, sei "schon mal gut". Blankem Opportunismus war es dann aber geschuldet, dass die "Leitkultur" schon nach einer Woche an Strahlkraft verlor und aus dem Verkehr gezogen wurde. Mittlerweile war absehbar, wie heftig die glitschige Parole ihre Schöpfer ins Straucheln brachte.

Ein prächtiges Bild bot damals die FAZ. Während im politischen Teil des Blattes die Debatte um "die deutsche Leitkultur" als Damm "gegen den Prozeß der Entnationalisierung" gelobt wurde, teilte das Feuilleton am gleichen Tag - dem 24. Oktober 2000 - bündig mit: "Die Rede von der deutschen Leitkultur ist obszön."

Nach dem Überraschungssieg der rot-grünen Koalition bei den Bundestagswahlen vom 22. September 2002 blies der "Extremismus der Mitte" zum letzten Gefecht. Der emeritierte Berliner Professor Arnulf Baring lancierte am 19. November 2002 sein Pamphlet Bürger, auf die Barrikaden! Der Aufruf war politisch so plump und intellektuell so platt, dass er tags darauf von Bild nachgedruckt und der Verfasser zum "Vordenker Deutschlands" geadelt wurde. Dass der lebenslang rundum versorgte Staatsbeamte Baring das neoliberale Lied von "Selbstständigkeit und Eigenverantwortung" anstimmte, konnte kaum verwundern. Bigotterie und Selbstgerechtigkeit hatten in der Bundesrepublik immer schon zur Grundausstattung konservativer Intellektueller gehört.

Baring bedauerte als Historiker, es gäbe mit dem Grundgesetz leider keine rechtliche Handhabe für Notverordnungen wie den Artikel 48 der Weimarer Verfassung, das war starker Tobak. Immerhin wurde die Weimarer Demokratie mit präsidialen Notverordnungen herunter gewirtschaftet, sprich: legal beseitigt, und zum Vorteil der Nazis zermürbt. Barings Auslassungen erschienen übrigens nicht in der Jungen Freiheit, sondern in der FAZ. Man sollte gewiss keine zweifelhaften historischen Analogien beschwören, aber der Vorgang schien zumindest ein Symptom dafür: Das konservative Ressentiment gegen die Republik, das schon die erste deutsche Demokratie erodieren ließ, ist noch virulent.

Kurz bevor Gerhard Schröder um Vertrauen für Misstrauen warb, um neu wählen zu lassen, wollte Angela Merkel wieder einmal aus dem tauben Gestein "Patriotismus" Funken schlagen, um den deutschen Werteschrein in ein anheimelndes Licht zu tauchen. Das Unternehmen scheiterte ebenso schnell wie der Versuch von Edmund Stoiber und CDU-Hinterbänklern, den EU-Beitritt der Türkei im Namen des "christlichen Abendlandes" als Wahlkampfschlager zu intonieren.

Den Begriffen "deutsche Leitkultur" und "christliches Abendland" ist gemeinsam, dass sie als gegeben unterstellen, was es nie gegeben hat. Die Vorstellung einer ethnisch homogenen Nation oder einer nationalen Kultur - sie ist ebenso Legende und Mythos wie die zum Idyll verklärte Wertegemeinschaft, die eine sozial zerklüftete Gesellschaft einzuebnen meint. Um das "christliche Abendland" steht es kaum besser, außer Christen gab es in Europa immer auch Heiden, Ketzer, Juden, Muslime und Atheisten. Die zitierten Begriffe leben von Chauvinismus und religiösem Dünkel. Mit ihnen sollen in pluralistischen Gesellschaften Mehrheiten zusammengeleimt werden. Tatsächlich bilden sie Instrumente zur Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten, Andersgläubigen und Andersdenkenden.


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