Von einer halbjährigen Pause zwischen der Niederlage in Dien Bien Phu im Mai 1954 und dem Beginn des Algerienkrieges im November des gleichen Jahres abgesehen, befand sich Frankreich von September 1939 bis März 1962, als die Schlacht um Algerien zu Ende ging, unablässig im Krieg. Am 8. Mai 1945, da in Europa die Waffen endlich schwiegen, war in der algerischen Stadt Sétif ein Aufstand ausgebrochen, dessen Niederschlagung 10.000 Algerier mit dem Leben bezahlten. Im Dezember 1946 begann der französische Indochinakrieg und sollte acht Jahre dauern. Schließlich wurde im März 1947 Madagaskar von einer Rebellion gegen die Kolonialmacht erschüttert, in deren Gefolge 80.000 Menschen umkamen.
Frankreich, das Algerien 1830 erobert hatte, regierte das Land nach dem Aufstand von Sétif mit Zuckerbrot und Peitsche: Der Kolonialstatus wurde verlängert, obwohl General de Gaulle den Kolonien am 30. Januar 1944 in seiner Rede von Brazzaville, die Konturen einer französischen Nachkriegsgesellschaft umriss, "Reformen" und eine "Assoziation" mit dem Mutterland in Aussicht gestellt hatte. Einen absehbaren Erfolg des Mouvement pour le Triomphe des Libertés Démocratiques (MTLD) von Messali Hadj bei der Wahl zur Assemblée Algérienne hatte das Kolonialregime im April 1948 jedoch mit massiven Wahlfälschungen zu verhindern gewusst, auf dass eine Million Algerienfranzosen auch künftig neun Millionen Algerier in Schach halten konnten.
Es folgte Anfang der fünfziger Jahre eine Welle von Streiks, bis sich im März 1954 das Comité Révolutionnaire pour l´Unité et l´Action (CRUA) vom MTLD abspaltete und eine kleine Gruppe formierte, die den bewaffneten Kampf aufnahm. Ein halbes Jahr später allerdings löste sich die CRUA plötzlich auf, um unter dem Namen Front de Libération Nationale (FLN) mit einem militärischen Flügel - genannt Armée de Libération Nationale (ALN) - wieder aufzutauchen.
FLN und ALN vertraten einen vagen Nationalismus und waren durchaus für panarabische Ideen empfänglich. Zusammen rekrutierten sie anfangs kaum 1.000 Mitglieder, die über ein Waffenarsenal von ein paar Dutzend Jagdgewehren verfügten. Ohnehin war Frankreich im Sommer 1954 nicht zuvörderst mit den "algerischen Zuständen", sondern viel zu sehr damit beschäftigt, die katastrophale Niederlage im nordvietnamesischen Dien Bien Phu zu verkraften und die Genfer Indochina-Konferenz ohne übermäßigen Prestigeverlust durchzustehen. Zudem tobte die Debatte um die geplante, dann aber scheiternde "Europäische Verteidigungsgemeinschaft" (EVG).
Agonie der IV. Republik
Der Mutterland ist völlig überrascht, als es in der Nacht zum 1. November 1954, dem katholischen Festtag Allerheiligen, zu einer Serie von Bombenexplosionen in 30 algerischen Städten kommt. Zwar hat der Befreiungskrieg in diesem Teil Nordafrikas schon 1945 mit dem erwähnten Aufstand in Sétif begonnen, aber wer rechnet schon mit einem Krieg, der dem gerade in Indochina verlorenen in nichts nachstehen wird? So sprechen denn auch das offizielle Frankreich und große Teile der Presse von "den Ereignissen" oder "einer Rebellion", die militärisch "befriedet" ("pacifiée") werden müsse. Das soll sich als große Illusion erweisen, was französischen Richtern im Unterschied zum Gros der französischen Politiker, Militärs oder Journalisten von Anfang an klar zu sein scheint: Sie befreien in Algerien engagierte Versicherungsgesellschaften von Ansprüchen auf Schadensersatz und geben dafür eine so lakonische wie ernüchternde Begründung ab - Kriegs- und Bürgerkriegsgebiete seien vertragsgemäß von der Haftung ausgenommen. In Algerien sei dieser Fall gegeben.
Zu diesem Zeitpunkt regiert Pierre Mendès-France mit einer Großen Koalition aus Parteien der rechten Mitte bis hin zu den Sozialisten. Der linksliberale Republikaner gibt unumwunden zu verstehen, die "Algerienfrage" werde durch "eine Politik der Entspannung und der Reformen" gelöst oder durch "eine Politik der Repression und der Gewalt" verschärft. Als er das am 3. Februar 1955 auch öffentlich erklärt und die erste Option als einzig vernünftige bezeichnet, bleiben ihm noch ganze zwei Tage im Amt. Sein Abschiedswort - "es hat etwas begonnen, das sich nicht mehr aufhalten lässt" - soll sich auf blutige Weise bewahrheiten. Auf das Kabinett Mendès-France folgen fünf Regierungen in drei Jahren - für die IV. Republik hat der Abstieg begonnen und wird unaufhaltsam sein.
Zunächst aber drängen die Suez-Krise - Ägyptens Präsident Nasser hat im Juli 1956 den Kanal verstaatlicht - und der Ungarn-Aufstand im Herbst des gleichen Jahres das Thema Algerien an den Rand des öffentlichen Interesses, obwohl innerhalb kurzer Zeit die französischen Truppen in Nordafrika von 200.000 (Januar 1956) und auf 450.000 Mann (Ende 1957) aufgestockt werden. Mit den brachialen Operationen der "ratissage" (Durchkämmung) - sie tragen die Decknamen Véronique und Ariane - terrorisieren Spezialkommandos die Zivilbevölkerung, während im Gegenzug FLN und ALN wahllos Polizisten und europäische Zivilisten ermorden. Am 20. August 1955 erreicht der Krieg einen Punkt, der jede Verhandlungslösung in weite Ferne rückt. An jenem Tag tötet die ALN in Philippeville 71 Europäer und 62 Algerier, woraufhin Siedler-Milizen und französische Soldaten ihrerseits mehr als 1.000 Algerier abschlachten. Die Befreiungsfront antwortet mit der Parole von der "Generalisierung des Terrorismus", das heißt mit Angriffen auf jeden Europäer und jede Institution, die in irgendeiner Weise mit der Kolonialmacht in Verbindung steht - die Gewaltspirale kommt unmäßig in Schwung.
Da es Polizei und Armee nicht gelingt, in die Kommandostrukturen von FLN und ALN einzudringen, bedienen sie sich - unter der beschönigenden Bezeichnung "Spezialbefragung" - immer mehr der Folter, um "Erkenntnisse" vorweisen zu können. Im März 1955 liegt dem damaligen Innenminister François Mitterrand der Wuillaume-Bericht vor, der die barbarischen Praktiken beim Namen nennt, doch bleibt diese Intervention ebenso folgenlos wie der Rücktritt von General Paris de Bollardière, der aus Protest gegen die Verhörmethoden demissioniert. Auch der Aufruf von Intellektuellen wie Pierre Vidal-Naquet, Jean-Paul Sartre, André Breton oder Jean Cocteau, dem sittlichen Verfall in der Kolonialarmee Einhalt zu gebieten, rührt die Generalität nur mäßig. Im Gegenteil: Als General Jacques Massu und die 10. Fallschirmspringerdivision (die berüchtigten "Paras") Anfang 1957 das Kommando in Algerien übernehmen, wird die Folter in der "Schlacht um Algier" (September 1956 bis Oktober 1957) zur "täglichen Praxis" (General Bollardière). Im Auftrag von Massu beruhigen der Feldgeistliche Delarue und der Oberst Trinquier das Gewissen der Soldaten: "Jemanden leiden zu lassen, heißt nicht foltern, ... solange man keine andere Wahl hat" und "solange der Schmerz dem Ziel, das man erreichen muss, angemessen ist." - Hinter der Zahl von 3.000 allein in dieser Zeit "Verschollenen" verstecken sich nahezu ausschließlich die zu Tode gefolterten und anschließend heimlich begrabenen Algerier, darunter mehrere Dutzend Frauen.
Der Erlauchteste der Franzosen
Frankreichs politische Führung steuert sehenden Auges in ein Dilemma, das im Mai 1958 definitiv zur Staatskrise wird. Schon vor der Wahl des zu Verhandlungen mit dem FLN gewillten Pierre Pflimlin (*) zum Regierungschef spricht General Raoul Salan, der Oberkommandierende in Algier, öffentlich von "Gewissenskonflikten in der Armee", mit denen unausweichlich zu rechnen sei, sollte eine französische Regierung Gespräche mit der Befreiungsfront beginnen. In Algier reißt ein Comité du Salut Public die Macht an sich und besetzt den Gouverneurssitz. Davon unberührt plant Charles de Gaulle in Paris die erforderlichen Schritte, um der IV. Republik den Gnadenstoß versetzen und die V. Republik begründen zu können. Er distanziert sich keineswegs von den rebellierenden Militärs, "ich ziehe es eher vor, die Ordnung wiederherzustellen, als die Unordnung zu verdammen", lässt er mitteilen. Da sich aber die Regierung in Paris in ohnmächtiger Hektik verliert und ausgerechnet General Salan mit Sondervollmachten ausstattet, wird der Ruf nach de Gaulle immer lauter. Nur will der "erste Widerstandskämpfer" von 1940 gegen Hitler und Pétain 18 Jahre später die Macht nicht aus den Händen von Putschgenerälen erhalten - er will vom Staatspräsidenten als "der Erlauchteste der Franzosen" gebeten werden. Als das geschieht, zwingt de Gaulle Premierminister Pflimlin zum Amtsverzicht und kandidiert selbst als Regierungschef - freilich zu seinen Bedingungen: Er verlangt Sondervollmachten für Algerien, eine neue Verfassung und die Beurlaubung der Pariser Nationalversammlung, die ihn zuvor noch am 1. Juni 1958 mit 329 zu 224 Stimmen zum Regierungschef wählen darf. Die IV. Republik ist passé - in Algier triumphieren die Militärs und Algerienfranzosen, sie fühlen sich als Sieger, um so mehr, als de Gaulle ihnen den Satz schenkt: "Ich habe euch verstanden".
Bereits Ende September 1958 wird die Verfassung der V. Republik bei einer Volksabstimmung mit 80 Prozent Zustimmung angenommen. De Gaulle deutet das auch als Mandat, den nordafrikanischen Krieg zu beenden. Nach einigen Monaten des Taktierens und der Zweideutigkeiten bekennt er sich am 16. September 1959 in einer seiner legendären Rundfunk- und Fernsehreden zur "Selbstbestimmung" (autodétermination) der Algerier. Die Militärs, die de Gaulle faktisch an die Macht gebracht haben, fühlen sich betrogen. Radikalisierte Algerienfranzosen verbarrikadieren sich im Universitätsviertel von Algier, werden aber nach einer Woche zur Kapitulation gezwungen.
Bei einem Referendum ein Jahr später votieren drei Viertel der Franzosen für die Unabhängigkeit Algeriens und damit für Verhandlungen mit der provisorischen algerischen Exilregierung. Daraufhin greift am 22. April 1961 "eine Hand voll pensionierter Generäle", wie de Gaulle sie nennt, zum letzten Mittel und putscht in Algier. Der Staatspräsident erhält Sondervollmachten und fordert die loyalen Truppen auf, "alle Mittel, ich betone, alle Mittel einzusetzen, um diesen Leuten das Handwerk zu legen." Der Widerstand bricht schnell zusammen, auch weil am 26. April 1961 zwölf Millionen Franzosen mit einem Generalstreik den ultrakolonialistischen Verschwörern eine Absage erteilen. Ein Teil der Putschgeneräle geht danach in den Untergrund und formiert die Organisation de l´Armée Secrète (OAS), die Algerien und Frankreich in den folgenden Monaten mit ihrem Bombenterror überzieht.
Seit Anfang 1961 hat der Schweizer Diplomat Olivier Long Kontakte zwischen der französischen Regierung und dem FLN vermittelt, die unter dem Druck der Ereignisse bald in Verhandlungen münden, so dass am 18.März 1962 die Verträge von Evian (s. Kasten) unterzeichnet werden: Sie beenden Frankreichs letzten Kolonialkrieg und besiegeln Algeriens Unabhängigkeit.
Sieger gibt es freilich keine. Mindestens 150.000 Algerier sind seit dem 1. November 1954, als die Bataille begann, ums Leben gekommen. 60.000 bis 120.000 Harkis - Algerier, die unter den Franzosen gedient haben -, werden nach dem Waffenstillstand aus Rache ermordet. Frankreich hat 30.000 Soldaten sowie mehrere tausend Zivilisten verloren - und mit einer Million Algerienfranzosen eine Million Flüchtlinge aufzufangen. Die wirtschaftlichen und psychologischen Bürden dieses Exodus bleiben lange spürbar. Sie sind es bis heute.
(*)Pierre Pflimlin war von 1956 bis 1959 Präsident der Republikanischen Volkspartei (MPR), nach seiner Demission als Premier zunächst 1958/59 und noch einmal 1962 Staatsminister unter Präsident de Gaulle.
Die Abkommen von Evian
Die am 18. März 1962 vom französischen Algerien-Minister Joxe und dem Vizepräsidenten der Provisorischen Regierung der Algerischen Republik (GPRA), Belkassem Krim, unterzeichneten Verträge trugen Kompromisscharakter und waren paradigmatisch für Frankreichs Umgang mit seinen ehemaligen Kolonien nach deren Unabhängigkeit. Einerseits wurden die Grundlagen eines souveränen algerischen Staates fixiert, andererseits Abhängigkeiten fortgeschrieben, die in ökonomischer Hinsicht auf postkoloniale Dominanz zielten. Die entscheidenden Punkte von Evian waren:
1. Die Feuereinstellung zwischen den Konfliktparteien tritt am 19. März 1962, 12.00 Uhr, in Kraft.
2. Frankreich erkennt vorbehaltlich einer durchzuführenden Volksabstimmung die "volle und ungeteilte Souveränität Algeriens im Inneren und nach außen" an.
3. Algerien garantiert das Recht der europäischen Minderheit und die wirtschaftlichen Interessen Frankreichs, einschließlich der "Nutzung der Erdöllagerstätten in der Sahara durch französische Gesellschaften".
4. Frankreich wird Algerien finanzielle und wirtschaftliche Hilfe in dem Maße leisten, wie die französischen Interessen in Algerien gewahrt bleiben.
5. Beide Länder gewähren sich die Meistbegünstigung im Außenhandel.
6. Algerien verbleibt im französischen Wirtschaftsverband.
7. Frankreich entschädigt jene französischen Staatsbürger, deren Ländereien vom algerischen Staat durch eine Agrarreform beschlagnahmt werden.
8. Frankreich reduziert seine Truppen in Algerien auf 80.000 Mann, die noch für drei Jahre im Land verbleiben und an vereinbarten Orten stationiert werden.
9. Frankreich erhält die Nutzungsrechte für das Kernwaffenversuchsgelände Reggane in der Sahara auf fünf Jahre.
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