Formeln ohne jede Substanz

Neues Grundsatzprogramm Die CDU kombiniert einige Wortbausteine zu Glaubenssätzen

Der Entwurf zum neuen CDU-Grundsatzprogramm, das im Dezember auf dem Parteitag in Hannover verabschiedet werden soll, umfasst 94 Seiten mit 360 programmatischen Forderungen - also eine für fast jeden Tag.

Das vorläufige Programm kommt mit etwa 250 Wortbausteinen von "Arbeit" bis "Zuwanderung" aus. Diese kombiniert es mehr oder weniger sinnvoll zu Glaubenssätzen. Formal pflegt der Entwurf die radikale Vereinfachung des politischen Slangs zu bildzeitungsgerechten Hauptsätzen, die den Leser buchstäblich erschlagen ("Kinder binden uns an das Leben"). Der Konservatismus war intellektuell auch schon mal anspruchsvoller.

Diese Schwundstufe des Konservatismus lebt vom hohen C im Parteinamen: "Das christliche Verständnis gibt uns die ethische Grundlage" für alle Vorstellungen von Freiheit, Sicherheit, sozialer Marktwirtschaft, Europa, Familie, Globalisierung, Bildung oder Arbeit. Gelegentlich zeitigt dieser Refrain nur noch Borniertes: "Das Grundgesetz beruht auf Werten, die christlichen Ursprungs sind." Sicher haben einzelne Normen des Grundgesetzes auch christliche Wurzeln. Der größere Anteil an Werten heidnisch-antiker und jüdischer Herkunft wird damit einfach unterschlagen. Das Grundsatzpapier lebt vom kurzen Gedächtnis, redet aber - dazu weiter unten - von "Erinnerungskultur". Was der Entwurf auf der ersten Seite noch weiß, nämlich "dass sich aus christlichem Glauben kein bestimmtes politisches Programm ableiten lässt", hat er ein paar Seiten weiter hinten schon wieder vergessen: "Die geistigen Grundlagen unserer christlich-demokratischen Union befähigen uns, die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu bewältigen."

Die Anwort auf die Frage, welche Gesellschaft die CDU anstrebt, kommt gleich als Drilling daher. Man kann wählen zwischen "Chancengesellschaft", "Bürgergesellschaft" und "Wissensgesellschaft": das Wissen sichert dem Bürger Chancen; die Chancen, Wissen zu erwerben, machen den Bürger; der Bürger lebt von Wissen und Chancen. Wie man die Sache auch dreht, alles läuft auf Formeln ohne jede Substanz hinaus.

Die CDU fordert "Arbeit für alle" und "Vollbeschäftigung". In einem Anfall von Realismus räumt sie ein: "Viele Menschen haben in den letzten Jahrzehnten Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft verloren." Aber schon die Antwort, wodurch dieses Vertrauen wieder gewonnen werden soll, fällt ausgesprochen dürftig aus: durch "mehr Freiheit", mehr Wettbewerb, mehr Teilhabe". Das freut sicher jeden Hartz IV-Empfänger, der bereits die totale Freiheit und den tödlichen Wettbewerb genießt und von jeder Teilhabe ohnehin schon systematisch ausgeschlossen ist.

Im Nebel des CDU-Programms hat die Logik keinen Platz. "Das gegliederte Schulsystem hat sich als erfolgreich erwiesen." Wie erfolgreich, beweisen die PISA-Plätze. Aber das ist hier nicht der Punkt. Wenn dieses "gegliederte" System so erfolgreich war, warum fordert dann die CDU im übernächsten Satz: "Wir wollen ... mehr und bessere Bildung für alle"? Und auch im folgenden Lebkuchenvers bleibt die Logik auf der Strecke: "Wohlstand für alle durch Bildung für alle wird es nur geben, wenn Bildung ihren Sinn und Zweck in sich selber trägt." Wie bitte? Wenn Wohlstand durch Bildung gesichert wird, ist doch Bildung gerade nicht eine sinn- und zweckfreie Veranstaltung, sondern auf Wohlstand ausgerichtet, also "ver-zweckt", das heißt instrumentell, zu verstehen.

Man soll die Parteiarbeiter, die den Entwurf verfasst haben, nicht überfordern, aber ein wenig Konsistenz darf man schon erwarten. Manchmal fühlt man sich wie in einem Kabarett. Auf die Forderung 107 (Fremdsprachenunterricht schon in der Grundschule) folgt direkt jene nach "möglichst vielen Spitzenforschern" (Forderung 108).

In dieser "unübersichtlichen, aber chancenreichen Zeit" muss "sich jeder anstrengen, so gut er kann". Prächtig gesagt. Was das für die schwarzen Programmatiker bedeutet, demonstrieren sie in den Passagen, die "unserer Leitkultur" gewidmet sind. Das ist für Konservative ein vertracktes Ding: die FAZ vom 22.10.2000 pries es halbtrunken als Damm "gegen den Prozess der Entnationalisierung" an und stellte am gleichen Tag im Feuilleton nüchtern fest: "Die Rede von der deutschen Leitkultur ist obszön."

Die Programmatiker blicken zuerst - natürlich "neugierig und kreativ" - in die "veränderte Welt" und dann entdecken sie ganz neue Facetten der Sicherheit: "Die gesellschaftliche Integration von Zuwanderern auf der Basis der Leitkultur in Deutschland ist ein wichtiger Beitrag zur kulturellen Sicherheit." Der unmittelbar folgende Satz sagt zwar nicht, wer bzw. welche Polizei für die "kulturelle Sicherheit" zuständig ist, aber kommt zur Sache: "Das Ziel unserer Politik der inneren Sicherheit ist es, mit Augenmaß die Möglichkeiten des Staates zur Gefahrenabwehr und Kriminalitätsbekämpfung zu erweitern."

Der Zuwanderer ist demnach obendrein ein kulturelles Sicherheitsrisiko, das polizeimäßig behandelt werden muss. Der Zuwanderer hat ohnehin nichts mehr zu lachen, sondern Wortschatz und Grammatik zu büffeln: "Bedingungen unseres Zusammenlebens sind zuerst: die deutsche Sprache zu beherrschen, achtungsvoll dem Mitbürger zu begegnen und zu Leistung und Verantwortung bereit zu sein. Jeder Bürger muss zudem die für uns alle verbindlichen kulturellen Grundlagen unserer gesellschaftlichen und politischen Ordnung anerkennen." Wieder fehlt ein Hinweis, mit welchen Methoden das realisiert werden soll.

Aber schon die Festlegung der Standards für Sprachbeherrschung, Achtung und kulturelle Grundlagen wirft ein paar Fragen auf. Genügt für Zuwanderer, was die Sprachbeherrschung betrifft, das sprachliche Niveau von Stoiber, Bütikofer, Söder und Müntefering? Muss, was die Achtung gegenüber Mitbürgern angeht, das Profil von Talk Shows der Privatsender überschritten werden? Und gehört zur Anerkennung der "kulturellen Grundlagen", dass man Schweinehirn mag, oder reicht es schon, wenn man Labskaus und Bouletten isst und Cola trinkt?

Wie weit der intellektuelle und kulturelle Horizont des CDU-Programmentwurfs reicht, wird im Abschnitt "Erinnerungskultur" demonstriert. Zu dieser "Kultur" gehören Kenntnisse der "ganzen deutschen Geschichte", des "Nationalsozialismus", der "SED-Diktatur" sowie von Flucht und Vertreibung nach 1945. Das nennt man, trotz aller Lippenbekenntnisse zu Weltoffenheit und Europa, ein sehr übersichtliches, deutschnational geprägtes Welt- und Geschichtsbild, das zwischen dem Teutoburger Wald und Honeckers Staat nur Deutsches kennt, so als ob sich die ganze Geschichte immer nur um Deutschland gedreht hätte.


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