Gabel oder Nichtgabel

Theoriebrei Jean-Claude Kaufmanns prätentiöse Untersuchung "Kochende Leidenschaft"

Der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann beschäftigt sich seit Jahren mit dem Alltag: von den anfallenden Hausarbeiten (waschen, putzen, bügeln) bis zur Art, wie sich Menschen verlieben oder wie Männer Frauen betrachten. In seinem neuesten Buch geht es um das Kochen und Essen. Und wie immer bedient er sich der Methode des "verstehenden Interviews", das heißt er spricht mit einer überschaubaren Gruppe von Menschen - in diesem Buch sind es 22 - über ein Thema. Diese Interviews sowie die dabei gewonnen Eindrücke wertet der Forscher anschließend nach allen Regeln der einfühlenden Interpretation aus.

Kaufmann ist sich der Gefahren dieser Methode bewusst: Wie keine andere verleitetet sie zu bodenlosen Spekulationen und Verallgemeinerungen, vor allem aber auch dazu, "dass die Apriori-Vorstellungen des Forschers die Schlussfolgerungen beeinflussen" (Kaufmann). Über die Reichweite dieser Methode, die durchaus dazu taugt, mikroskopische Einblicke in unbekannte Lebensbereiche zu vermitteln, kann man streiten. Mit Sicherheit aber kann man auf der schmalen Basis von 22 Interviews keine Theorie oder Soziologie vom Kochen und Essen" - so der Untertitel des Buchs - basteln.

Kaufmann stellt sich jedoch der Herausforderung und sein Anspruch ist hoch. Er will nicht nur aktuelle Praktiken des Kochens und Essens beschreiben, sondern beginnt buchstäblich im Stockdunkeln der Vor- und Frühgeschichte zu suchen. Alle Religionen kennen sehr präzise Ernährungsvorschriften. Die Bibel etwa verbietet, Wildschweinfleisch zu essen, erlaubt aber den Verzehr von Wanderheuschrecken. Solche Verbote sind weder rational noch ernährungsphysiologisch erklärbar. Und obwohl der religiöse Ursprung solcher Verbote und Gebote längst vergessen ist, werden sie kulturell weitergetragen und zumindest zum Teil bis heute befolgt. Kaufmann vertieft diesen historischen Rückblick nicht, sondern benutzt ihn nur für die Konstruktion einer groben Dreiphasentheorie: zunächst kochten und aßen die Menschen streng nach den jeweils gültigen religiösen Regeln. Zwischen der Frühen Neuzeit und dem 19.Jahrhundert etablierten sich rigide profane Tischsitten, die das Geschehen beim Essen in den unterschiedlichen sozialen Klassen und Schichten regelten. Norbert Elias hat diesen Prozess als den der Zivilisierung und Domestizierung des Verhaltens und des Begehrens der Menschen darzustellen versucht. In der dritten Phase, der Moderne, emanzipierten sich die Menschen von religiösen Normen ebenso wie von starren sozialen Verhaltensregeln und geben sich gleichsam ihre individuellen Hausregeln.

Einen bündigen Ausdruck dieser Individualisierung bietet das, was Kaufmann die "Kühlschrankkultur" nennt. Von seinen Interviewpartnern erfuhr er, dass einige gar nicht mehr oder nur Fertigprodukte kochen. Das gemeinsame Essen wird zur Ausnahme, in der Regel bedient sich jeder aus dem Kühlschrank und isst mehr oder weniger im Stehen. Die "Köchin", in der Regel die Hausfrau und Mutter, ist nur noch für den Nachschub zuständig. Dass derlei vorkommt, ist ebenso unbestritten wie die seltsame Marotte Halbwüchsiger, die sich ausschließlich von Pizza mit Mayonnaise sowie Schinkenbroten ernähren. Aber Kaufmanns methodischer Zugriff mit nur 22 Interviewpartnern lässt natürlich keinerlei Aussage zu, wie repräsentativ diese Art der Ernährung beziehungsweise Haushaltsführung ist.

Dieses Defizit kompensiert Kaufmann, indem er die trivialen Beobachtungen aus seinen Interviews mit reichlich Theorie-Sauce garniert. Er erfindet "den autonomen Esser", der auch unter dem Namen "das arme Individuum der Moderne" durch das ganze Buch wandert. Und auf diesem Subjekt lastet ein Fluch: "Das arme Individuum der Moderne steht einer Aufgabe gegenüber, die schwer zu bewältigen und sogar schwer zu verstehen ist" - außer für Kaufmann natürlich, denn der fährt fort: die schwere Aufgabe des mustergültigen modernen Individuums besteht darin, "ständig zwei gegensätzliche Kämpfe ausfechten zu müssen. Es muss sich nämlich Gewissheit verschaffen, indem es sich beweist, dass es sehr wohl derjenige ist, der es zu sein glaubt, indem es sich selbst gleich bleibt, und zugleich darf es keine Angst davor haben, sich selbst neu zu erfinden, damit es nicht das bloße Produkt seiner sozialen Rollen bleibt. Also ist jede Bewegung der Gabel eine Option für die eine oder andere Richtung." Hamlets "Sein oder Nichtsein" und Fausts Zerrissenheit reproduziert der Soziologe spielend in der Preislage von "Gabel oder Nichtgabel".

Die "Soziologie vom Kochen" unterscheidet sich vom gewöhnlichen Kochen dadurch, dass sie irgendwie mit Spiritismus zu tun hat. Testfrage: Was tut die Hausfrau beim Teigkneten? Kaufmanns Antwort: "Sie formt die Zukunft der ihren". Oder: "Huhn in Kokosmilch ist kein Huhn mehr. Das Huhn wird transzendiert". Wodurch? Durch den Kontakt mit dem prätentiösen Hirngeklingel des soziologischen Küchenpriesters.

Wie Kaufmann beliebig aufgelesene theoretische Versatzstücke zum Beispiel des bedeutenden Rechtsphilosophen John Rawls oder des nur modischen Aushilfsapokalyptikers Zygmunt Bauman gleichsam als Gewürze in seinen Textbrei mischt, nähert sich zuweilen unfreiwilligen Kabarettnummern. Die Japanerin, die wenig kocht und keine Kinder kriegt, gleicht "einer Art Atom der reinen Autonomie in der kontraktuellen Moderne" (Rawls), das auf seiner Liebe surft, die zwar institutionell umrahmt ist, aber sich so sehr verflüssigt hat (Bauman), dass sie ungreifbar geworden ist". So wörtlich, Respekt - Atome, die auf ihrer sich verflüssigenden Liebe surfen - darauf muss man erst einmal kommen. Derlei kann man nicht erfinden, das muss man in sich tragen - genauso wie die Vorstellung von einer Pobacke, "die oft nur der Staub" ist, den jemand "seiner Familie in die Augen streut."

Wer solche Sätze "kocht", kommt ohne Kitsch - "Wärme der Menschlichkeit" in Kaufmanns Diktion - nicht aus. Existenziell brisant wird die Sache im Supermarkt. Geht die Köchin dorthin, hat sie ihre Familie im Kopf und "erfindet ihre Zukunft mit Hilfe von Joghurt und Erbsen", obwohl das riesige Warenangebot die Einkäuferin "in einen Abgrund an Komplexität" stürzt. Ungefährlich ist das nicht, denn Supermärkte sind auch "Orte, an denen man sich plötzlich in einen Camembert oder eine Hammelkeule verliebt" und dabei die Zukunft der Familie glatt vergisst. Aber keine Angst, "das arme Individuum der Moderne" stürzt sich nicht Kopf voran in die Kühltruhe, sondern pariert "die sterilen Qualen der reflexiven Komplexität", sich nicht für ein Produkt entscheiden zu können, im Handstreich mit "sinnlichen Erfahrungen", getreu dem Motto von Friedrich Engels: the proof of the pudding is in the eating. Überhaupt braucht hat man die herzitierten Schründe und Abgründe nicht so wörtlich zu nehmen, denn am Ende läuft alles auf die sprichwörtliche Einsicht des Hahns auf dem Mist hinaus: das Wetter ändert sich oder es bleibt, wie es ist. "Der Esser kann sich aber auch für das Gegenteil entscheiden". "Manche kochten, in der Vergangenheit wie heute, gern und gut, manche kochten weniger gern und gut." Genial - "Soziologie vom Kochen", wie sie leibt und lebt.

Jean-Claude Kaufmann: Kochende Leidenschaft. Soziologie vom Kochen und Essen. Aus dem Französischen von Anke Beck. UVK Verlag, Konstanz 2006, 372 S., 19,90 EUR


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