Gewalt fällt nicht vom Himmel. Das ist trivial, bleibt aber richtig und muss gesagt werden, wenn im Blick auf die Krawalle in Athen und anderen Städten vom "Abenteuerspielplatz" die Rede ist oder der Kriminologe Yannis Panousis von der "blinden Gewalt" und der "Lust an der Gewalt" bei "Anarchisten" und "Autonomen" - den "Rebellen ohne Grund" - schreibt, als würde es sich dabei um Naturkatastrophen handeln.
Ein Vergleich mit den Krawallen in französischen Vorstädten vor drei Jahren drängt sich auf. Damals waren zwei Jugendliche in der nordwestlich von Paris gelegenen Trabantenstadt Clichy-sous-Bois vor der Polizei geflohen und dann in einer Transformatorenstation entbrannt. Nach ihrem Tod entluden sich Wut, Hass und Verzweiflung. Zuerst rund um Paris, bald jedoch breitete sich auch an der Peripherie anderer Großstädte eine Welle gewalttätiger Proteste aus. Genau nach diesem Muster verlief auch der Aufruhr in Griechenland. Am vergangenen Samstag umstellten 30 Jugendliche einen Polizeiwagen und bewarfen das Fahrzeug und die Polizisten mit Steinen. Ein Beamter schoss - ob gezielt oder nur warnend, das bleibt umstritten. Sicher ist, dass die Kugel den 15jährigen Alexandros Grigoropoulos traf und er starb. Es folgte ein Ausbruch der Gewalt. Soweit die Parallelen.
Doch gibt es erhebliche Unterschiede. Die Gewalt erfasste in Griechenland nicht die Vorstädte wie in Frankreich, sie breitete sich direkt in der Hauptstadt aus, vorzugsweise im Stadtteil Exarchiab. Das Opfer stammt nicht aus einer armen Einwandererfamilie, sondern aus einem gut situierten Milieu. Im Herbst 2005 hatten die Jugendlichen aus den französischen Randbezirken größtenteils nicht einmal das Geld, zumindest kein legal erworbenes, um überhaupt bis in ein Stadtzentrum zu kommen. Versuchten es gar Gruppen, wurden die erst recht von der Gendarmerie abgefangen und zurückgeschickt. In Frankreich zündeten die Aufrührer Autos und öffentliche Einrichtungen an - in Athen hingegen wurden Geschäfte geplündert, was bekanntlich einige tun, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt, und die Staatsgewalt auf dem Rückzug ist.
Seit dem Aufstand der Studenten der ebenfalls im Stadtteil Exarchia gelegenen Technischen Hochschule im November 1973, den Polizei und Armee des damaligen Obristen-Regimes blutig niederschlugen, ist der Stadtteil ein Sammelbecken. Hier wohnen Studenten, radikale Linke, Arbeitslose, Drogenabhängige, aber auch viele Gewerbetreibende und Akademiker Tür an Tür mit Amüsierbetrieben. Seit der niedergeschlagenen Revolte von 1973 kam es in Exarchia praktisch jedes Jahr zu Scharmützeln zwischen Autonomen und Anarchisten, die sich selbst als solche bezeichnen. Beim letzten großen Krawall 1985 wurde der 15-jährige Michalis Kaltezas von der Polizei erschossen, was eine Welle von Protesten auslöste. Athen erlebte also nicht zum ersten Mal ein solches Aufbegehren. Intensität, Ausbreitung und Dauer des Ausbruchs sind damit freilich bei weitem noch nicht erklärt. Vieles mag zwar einen teils situativen und rituellen Charakter haben. Nur: Es waren nicht nur gewaltbereite Autonome, sondern auch Schüler und Studenten, die sich aus Frustration über die Zustände im Land an den gewalttätigen Protesten beteiligten. Die beiden großen Parteien - die konservative Nea Dimokratia und die sozialdemokratische PASOK - haben sich einander längst bis zur Ununterscheidbarkeit angenähert. Und nicht nur die Parteien, auch die Wirtschaft und sogar die orthodoxe Kirche sind permanent in Korruptionsfälle verwickelt. Traditionellerweise werden solche Skandale in Griechenland nicht gerichtlich aufgeklärt, sondern "einvernehmlich" beerdigt, kritische Journalisten gegebenenfalls mit Geld ruhig gestellt.
Es kommt hinzu, Jugendliche stehen nach dem Schulabschluss vor dem Nichts, von den Hochschulabsolventen finden nur die wenigsten adäquate Arbeit. Längst ist Schülern wie Studenten klar, dass gute Beziehungen zu einem "Onkel" in der Politik, Wirtschaft oder Verwaltung wichtiger sind bei der Stellensuche als ein guter Abschluss. Vor allem die massenhafte Frustration und eine weit verbreitete Hoffnungslosigkeit erklären, warum eine Handvoll Gewaltbereiter einen solchen Flächenbrand auslösen konnte. Darin wiederum besteht - trotz der skizzierten Unterschiede - eine Parallele zu den Protesten in der französischen Banlieue.
Die Beerdigung des Opfers Alexandros Grigoropoulos brachte Zehntausende auf die Beine. Die Krawalle mündeten wohl nicht zufällig in einen Generalstreik, zu dem die Gewerkschaften aufgerufen hatten, um gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung zu protestieren. Die scheint fragil, ausgelaugt und kaum überlebensfähig. Unsichere Zeiten bleiben Griechenland gewiss.
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