Im Schloss von Versailles haben die beiden Kammern des französischen Parlaments am 22. Juli die größte Verfassungsreform seit vier Jahrzehnten gebilligt. Für Initiator Nicolas Sarkozy kein wirklicher Triumph, denn die erforderliche Drei-Fünftel-Mehrheit wurde nur mit einer Stimme übertroffen.
Großspurig, wie es so seine Art ist, kündigte Nicolas Sarkozy im Frühjahr eine Verfassungsreform an. General de Gaulles Konstitution der V.Republik - sie datiert vom 4. Oktober 1958 - hatte bisher schon 22 Revisionen erfahren, freilich ohne dass die Substanz angetastet worden wäre. Mit Nicolas Sarkozys Reform werden nun 33 der 89 Verfassungsartikel geändert. Um das durchzusetzen, brauchte der Präsident eine Drei-Fünftel-Mehrheit im 908 Mitglieder zählenden Pariser Kongress, dem gemeinsamen Organ von Nationalversammlung und Senat. Die erste parlamentarische Hürde nahm das Projekt am 3. Juni in der Nationalversammlung, gegen die Stimmen der Sozialisten und Kommunisten erhielten die 33 Reformanträge - allerdings zum Teil erheblich verwässert - eine Mehrheit von 315 zu 231 Stimmen. Am 17. Juni begann die Debatte im Senat, der die Reform gleichfalls verabschiedete, ohne dass sich damit eine klare Drei-Fünftel-Mehrheit im Kongress abgezeichnet hätte. So blieb Sarkozy nichts weiter übrig, als am Wochenende vor der entscheidenden Abstimmung am 21. Juli potentielle Abweichler in der UMP und willige Sozialisten in "Einzelabreibungen" und im Drei-Minuten-Takt abzufertigen, um sich seine Mehrheit zusammenzukaufen.
Mit nur einer Stimme über der erforderlichen Mehrheit von 538 Voten gewann der Staatschef schließlich im Kongress die Abstimmung. Als einziger Sozialist stimmte Ex-Kulturminister Jacques Lang dafür und bewahrte Sarkozy vor einer beschämenden Niederlage. Kaum überraschend fordern seither einzelne Sozialisten Lang zum Parteiaustritt auf. Ségolène Royal sprach gar von "Verrat".
Joker Militärintervention
Ein großer Wurf ist Sarkozys Reform indes nicht, da sie zwei Grundprobleme ausklammert: Die starke Stellung des Präsidenten und die Schwäche von Premierminister und Parlament, obwohl fortan die Amtszeit eines Staatsoberhauptes auf zehn Jahre beschränkt sein soll. Die gaullistische Verfassung von 1958 installierte einen "rationalisierten Parlamentarismus", um "das gute Funktionieren der parlamentarischen Institutionen zu gewährleisten", wie sich Michel Debré (1912-1996) ausgedrückt hat, der Charles de Gaulle die Verfassung von 1958 auf den Leib schneiderte.
An dieser medial-plebiszitär gestützten "Monokratie" ändert sich mit der Reform fast nichts. Einzig bei der parlamentarischen Agenda machen Regierung und Parlament künftig Halbe-Halbe. Und im Parlament werden nicht länger Regierungsvorlagen debattiert, sondern die durch die parlamentarischen Kommissionen in erster Lesung verabschiedeten und veränderten Gesetzesvorlagen der Regierung. Ausgenommen davon sind die Budgetvorlage und die Finanzen der Sozialversicherung. Auch die Arbeit der Parlamentsausschüsse, deren Zahl von sechs auf acht steigt, wird durch die Reform gestärkt. Andererseits tagen die Ausschüsse nicht mehr öffentlich, was zu Lasten einer öffentlichen Debatte gehen dürfte.
Mit dem Vorschlag, die Verantwortung für die Verteidigungspolitik von der Regierung auf den Staatspräsidenten zu übertragen, scheiterte Sarkozy. Dafür erhält er aber das Recht, nach US-Vorbild vor dem Kongress - also beiden parlamentarischen Kammern - zu reden, was freilich nicht mehr als eine medial verwertbare Konzession ist.
Der Artikel 49-3 der Verfassung sah bisher vor, dass die Regierung, um Verzögerungstaktiken der Opposition zu beenden, das Plazet für Gesetzesvorhaben ohne Parlamentsdebatten durchsetzen konnte. Diese Verkürzung der legislativen Souveränität wird jetzt beschränkt auf Vorlagen zum Staatshaushalt und zur Sozialversicherung. Man kann den Wert dieser mutmaßlichen Stärkung des Parlaments an Zahlen ablesen: In 50 Jahren hätte die Nationalversammlung genau elfmal von der Neuregelung profitiert - nach einer aufgewerteten Legislative sieht das nicht aus.
Über ausländische Militäreinsätze muss die Regierung das Parlament künftig statt "schnell" innerhalb von "drei Tagen informieren" (!). Darüber abstimmen darf die Vertretung des Souveräns jedoch erst nach drei Monaten, sofern der Einsatz dann noch andauert. Militärinterventionen bleiben also ein Joker der Regierung. Ansonsten soll die Zahl der Ministerien beschränkt werden und das Begnadigungsrecht des Präsidenten nur noch für Einzelpersonen und nicht für beliebige Kollektive gelten. Seine Amtszeit wird auf zweimal fünf Jahre beschränkt. Für bestimmte Ernennungen braucht man im Elysée-Palast fortan die Zustimmung des zuständigen Parlamentsausschusses, der mit einer Drei-Fünftel-Mehrheit den Favoriten des Präsidenten verhindern kann.
Neu ist die Möglichkeit eines Referendums nach dem Willen der Bevölkerung. Die Hürden sind jedoch hoch: Zehn Prozent der Wahlberechtigten und ein Fünftel der Parlamentarier können künftig eine Volksabstimmung über ein Thema erzwingen, allerdings darf sich ein solches Votum nicht gegen ein Gesetz richten, das vor weniger als einem Jahr verabschiedet wurde.
Die wichtigste Reform wollten die Sozialisten schon vor Jahren, setzten sie aber nicht durch. Sie betraf das Recht der Bürger - je nach Art des Rechtsstreits - an das Verfassungsgericht (Conseil constitutionnel) zu gelangen, um die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Grundlagen von Urteilen überprüfen zu lassen. Das konnten bislang nur der Staatspräsident, die Präsidenten beider Kammern oder 60 Abgeordnete und Senatoren.
Wie eine Guillotine
Nicht reformiert wird das Wahlrecht. Für die Nationalversammlung gilt weiter das Mehrheitswahlrecht ohne jeden Abstrich, was kleine Parteien benachteiligt und sich wie eine Guillotine auswirkt.
Noch gravierender freilich erscheint der anachronistische, zum Teil aus der Zeit der II. und IV. Republik stammende Wahlmodus des Senats. Die indirekte Wahl privilegiert ländliche, schwach besiedelte Gebiete auf Kosten dicht besiedelter Großstädte und sorgt so seit Jahrzehnten für eine bürgerlich-konservative Mehrheit in dieser Kammer, die einem Oberhaus gleichkommt. In den Regionen und Departements gibt es überwiegend - nach proportionalem Wahlrecht - eine linke Mehrheit, aber im Senat herrschen die Konservativen! Das widerspricht elementaren demokratischen Standards. - Fazit: Sarkozys Reform ist gar keine.
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