Sieht so ein Wahlsieger aus? Über zwei Prozent ihrer Wähler hat die SPD verloren und insgesamt nicht einmal 40 Prozent der Stimmen gewonnen. Die Nicht-Wähler sind mit einem Anteil von über 20 Prozent drittstärkste Kraft - und nicht Fischers Vizekanzlerwahlverein mit seinen gut acht Prozent. Gerhard Schröder, der geborene "Occasionist" (Horst Ehmke), hat dank der Naturkatastrophe im Osten und der abenteuerlichen Washingtoner Kriegspolitik den Kandidaten aus Bayern auf den letzten Metern gerade noch ein- und dank des Wahlrechts beziehungsweise der Überhangmandate überholt. Eher alt sieht der zweite Sieger Edmund Stoiber aus, der sich keine zwei Stunden nach der Schließung der Wahllokale dazu hinreißen ließ, die CDU/CSU zur stärksten Partei zu erklären: "Eines steht jetzt schon fest: Die Union, wir haben die Wahl gewonnen". (Originalton Stoiber) Und noch am Tag danach sprach er großspurig vom "Wahlerfolg". Im Osten liegt dieser Sieger durchweg bei 30 Prozent. Auch manch Feuilleton hat sich gründlich verrechnet, als es Schröder Fischer schon vor der Wahl "ab ins Museum" (FAZ, 21. September 2002) schickte.
Das Wahlergebnis steht nicht nur für eine parlamentarische Pattsituation des annähernden Gleichgewichts von konservativ-liberalen und sozialdemokratisch-grünen Abgeordneten. Das Ergebnis spiegelt auch den Zustand einer Gesellschaft, die nicht nur wegen der schlechten konjunkturellen Lage aus dem Tritt geraten ist. Je nach dem, wohin man schaut, kann man diesen Zustand als lähmenden Stillstand oder als lärmendes Laufen eines Motors im Leerlauf beschreiben. Beide "Bewegungsformen" - die lähmende wie die lärmende - sind in allen Parteien zu finden.
Trotz der Brisanz ungelöster gesellschaftspolitischer Fragen - von der Arbeitslosigkeit und den Strukturproblemen des Ostens über die Krise in den Sozialsystemen bis zur Steuerreform - vermochte keines der beiden politischen Lager für seine Lösungsvorschläge eine klare und tragfähige Mehrheit zu mobilisieren. Die Wähler trauen dem konservativen Kompetenzgerede etwa gleich wenig zu wie den neoliberal grundierten Modernisierungsversprechen der rot-grünen Koalition. Die Menüs aus den Küchen Späths und Eichels, Günther Becksteins und Otto Schilys, Horst Seehofers und Renate Schmidts unterscheiden sich allenfalls dadurch, wie sie serviert werden, nicht in ihrer Zusammensetzung.
Die wohlfeile Rede von "Mehrheit ist Mehrheit" (Franz Müntefering) kann nicht davon ablenken, dass ein zweites Kabinett Schröder Fischer sehr schwach und auf praktisch allen innenpolitischen Feldern bald heftigen Zerreißproben ausgesetzt sein wird. Wer gleichzeitig die Steuern senken, die Verschuldung reduzieren und auf den Schlachtfeldern "weltpolitisch" mitmischen will, hat kein Geld für ökologisch-soziale Reformen, die mehr sind als regierungsamtliche Reklame ("Agrarwende"), und auch keine Mittel für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Sanierung der Sozialversicherungssysteme. Und wo die alte neue Koalition zu Reformen ansetzt, dürfte sie schnell auf Grenzen stoßen und vom Bundesrat blockiert werden.
Richtiggehend in der Falle sitzen Schröder Fischer in der Außenpolitik. Sie müssen das Denkbare, aber noch gar nicht Greifbare - eine gemeinsame europäische Außenpolitik gegen ein Kriegsabenteuer im Irak - auf die Beine bringen oder sie müssen zurück buchstabieren. Eine Arbeitsteilung zeichnet sich ab: Schröder hat sich im Wahlkampf laut darauf festgelegt, dass mit deutschen Vasallendiensten bei einem Irak-Krieg nicht zu rechnen sei. Er wird schweigend den Krebsgang einlegen. Fischer engagierte sich nur halblaut und wird deshalb den Bet- und Bittgang nach Canossa zu Condolezza Rice und Colin Powell antreten müssen, um beim Präsidenten wieder gutes Wetter zu machen. Glaubwürdiger werden Schröder Fischer dadurch nicht. Mit dem "deutschen Weg", in der sprachlichen Form verquer, in der Sache jedoch konsistent, plädierte Schröder zu Recht für eine eigenständige Außenpolitik, die allerdings nur Chancen hat, wenn sie europäisch abgestützt wird. Da ist eine Vereinheitlichung nicht unmöglich, aber vorerst in weiter Ferne, denkt man an die Allianz von Blair, Aznar und Berlusconi mit George W. Bush.
Nötig wäre eine selbstbewusste europäische Außenpolitik angesichts des Strategiewechsels der Bush-Administration allemal. Die versteckt jetzt ihre Demontage des Völkerrechts und die Selbstlegitimation für Angriffskriege nicht mehr im geringsten hinter der Formel vom Recht auf "Selbstverteidigung durch Vorbeugung", seit die Präventivdoktrin dem Kongress als Gesetzesvorlage zugeleitet wurde. Im Namen von "Freiheit, Demokratie und freiem Unternehmertum" will Bush "den Krieg gegen den Terrorismus" mit einem "Krieg der Ideen" flankieren. Hierzulande hat die konservative Presse diesen "Krieg der Ideen" vorauseilend bereits aufgenommen. Mit zwei vulgären Parolen versucht sie wieder einmal, die - auch von amerikanischen Intellektuellen geteilte - Kritik an der US-Regierung und an einem erneuten Krieg für Öl als "Anti-Amerikanismus" und "Pazifismus" herunterzumachen. Die strammen Abschreckungstheologen von gestern präsentieren sich nun als Helden des Mitmachens und sind mit Schaum an den Lippen dabei, das Publikum auf die vermeintliche Notwendigkeit eines Krieges einzustimmen und die pazifistische Grundierung des Bonner Grundgesetzes als "konsumbürgerliche Ohne-mich-Haltung" (Thomas Schmid) zu denunzieren.
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