Mit heißer Nadel

Frankreich Die Regierung Macron würde ihre „Agenda der Lockerungen“ gern mit einem Ausstieg aus der Wirtschaftskrise und einer alternativen Europapolitik verbinden
Wie weiter nach den „Lockerungen“? Vor dieser Frage steht auch der Frankreichs Präsident Emmanuel Macron
Wie weiter nach den „Lockerungen“? Vor dieser Frage steht auch der Frankreichs Präsident Emmanuel Macron

Foto: Mathieu Cugnot/POOL/AFP via Getty Images

Auf 100.000 Einwohner starben in Frankreich bis Mitte Mai 38 Menschen an einer Covid 19-Infektion – in Deutschland acht. Dabei kann von einem leichtfertigen Umgang der Regierungspolitik mit der Krise keine Rede sein. Bis zum 11. Mai galt im ganzen Land eine zumindest in den Städten polizeilich penibel überwachte Isolation – den Menschen war pro Tag nur eine Stunde Freigang außerhalb ihrer Wohnung erlaubt. Auch werden die absehbaren ökonomischen Folgen weit gravierender sein als für die deutsche Gesellschaft. Immerhin wird mit einem um neun bis zehn Prozent schrumpfenden Bruttoinlandsprodukt (BIP) gerechnet.

Identisch sind die Krisen in beiden Ländern nur beim Flachsinn der über Nacht zu Hilfsvirologen gewordenen Feuilleton-Soziologen, wenn hier wie dort über „Pan-Medikalismus“, „Ärzte-Herrschaft“ und „Coronifizierung der Politik“ geschrieben wird.

Gereizte Stimmung

Zweifellos hat die Pandemie einmal mehr die Defizite des französischen Gesundheitssystems offengelegt, das außerstande war, auf schwere Fälle in schwach besiedelten ländlichen Regionen mit den gleichen Mitteln zu reagieren wie in der Metropolenregion Paris mit gut zwölf Millionen Einwohnern. Infizierte mussten in umgebauten Zügen, Helikoptern und Flugzeugen dorthin gebracht werden, wo noch Betten frei waren, aber häufig Virenschutzmaterial fehlte.

Bürokratie, Logistik und finanzielle Ausstattung eines zentralistischen Gesundheitsdienstes blieben die Effizienz und Flexibilität schuldig, wie sie in einer solchen Notlage gebraucht werden. Auch deshalb reagieren viele Franzosen mit Skepsis, wenn die Regierung mit „Lockerungen“ nach einem Ausstieg aus der Krise sucht. Empörung hat ausgelöst, dass die strikte Isolation für ältere Menschen zunächst fortgesetzt werden sollte. Ohnehin scheint die „Agenda der Lockerungen“ mit heißer Nadel gestrickt: Im Bildungswesen lehnten es viele Schulrektoren ab, mit der am 11. Mai erfolgten Rückkehr zum Unterricht, die Verantwortung für die Gesundheit von Pädagogen und Schülern zu übernehmen, was eine gereizte Stimmung noch verstärkt.

Davon profitieren kann derzeit besonders Marine Le Pen mit ihrem ultrarechten Rassemblement National (RN), der schon bei den Kommunalwahlen (Beteiligung nur 44,7 Prozent) am 15. März zulegen konnten, während Emmanuel Macrons Wahlverein LREM eine ziemliche Niederlage hinnehmen musste. Bleibt abzuwarten, ob sich dieser Trend in der zweiten Runde bestätigt, die Corona-bedingt auf Mitte Juni verschoben ist.

Feindbild Brüssel

Wenn sich das Führungspersonal aus Konservativen, Liberalen, Sozialisten und „Macronisten“ auf eine nationale Strategie zur Krisenlösung verständigt, dann bekommt das auch die EU zu spüren. Schon jetzt sind sich alle politischen „Familien“ parteiübergreifend einig, wo der Gegner sitzt – „in Europa“ und „in Brüssel“. Für linke wie für konservative Regierungen waren in der Vergangenheit Krisenlösungen stets national grundiert, allen Europa-Schwüren zum Trotz. Jean-Pierre Chevènement, Umweltminister des sozialistischen Staatschef Mitterrand, verließ 1983 das Kabinett und gründete seinen national-souveränistischen „Mouvement des Citoyens“. Mit seinem Feldzug gegen Brüssel fand er auch im bürgerlichen Lager durchaus Anklang. Und der rechtsliberale Dominque de Villepin wurde nach dem Referendum gegen eine Europäische Verfassung 2005 Premierminister unter Jacques Chirac. Er bemühte sich um eine „nationale Union“ von Staat, Unternehmern, Verbänden und Lohnabhängigen für eine dezidiert national orientierte, europaskeptische Politik.

Der Sozialist Arnaud Montebourg meldete sich jetzt zu Wort. Er war Wirtschaftsminister unter François Hollande und Vorgänger von Macron in diesem Amt. Montebourg verwies auf sein Projekt, 34 Industriebetriebe mit Subventionen und Forschungskapazitäten auszustatten, um der Wirtschaft zu helfen. Macron ließ ein solches Vorhaben versanden, Montebourg belebt es nun wieder – zusammen mit Chevènement. Er tut es wohl auch, um die Talfahrt der Wirtschaft aufzuhalten und zugleich der arg geschrumpften Sozialistischen Partei zu helfen. Montebourg plädiert für eine „Regierung der öffentlichen Wohlfahrt“, die Frankreichs „agrarische, gesundheitspolitische, industrielle und technologische Unabhängigkeit“ restaurieren soll, was ohne eine Distanz zu Europa schwer vorstellbar ist.

Süd gegen Nord

Selbst der Europäer Macron bedenkt die Krisenbewältigung – nachdem „Berlin“ ihn und die Südländer am langen Arm verhungern ließ – mit der Forderung nach solidarischen Lösungen. Zum Beispiel Eurobonds. Der Präsident bleibt dabei der französischen Tradition treu und handelt im Einvernehmen mit einem Frankreich, das „Solidarität und Souveränität“ wie auch immer kombiniert und nebenher Europa neu modelliert.

Schon Ende März sprach Macron davon, „unsere nationale und die europäische Souveränität zu rekonstruieren“ (wie auch immer), von der „Re-Lokalisierung der Produktionsketten“ sowie von der „industriellen Wiedereroberung“. Die Zustimmung des südlichen Europa zu solchen Ideen ist ihm ziemlich sicher. Aber ein Bündnis der Süd- gegen die Nordländer und die Trittbrettfahrer im Osten wäre für die EU wahrscheinlich tödlich. Es brächte nämlich keine Stärkung ihres Rückgrats durch Solidarität in der Krise, sondern letale Lähmung.

Der Abschied von der chauvinistischen idée fixe der „schwarzen Null“ war der erste Schritt, ihm müssen jener der solidarischen Krisenlösung in der EU und jener der Neutralisierung des jüngsten, EU-schädlichen Karlsruher Urteils folgen.

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