Schwimmen im Haifischbecken

Frankreich Die sozialistische Parteichefin Martine Aubry steht vor der Frage, soll sie auf Dominique Strauss-Kahn warten oder selbst zur Präsidentenwahl 2012 antreten?

Der Parti Socialiste (PS) in Frankreich hat seine Wurzeln in den Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegungen des 19. Jahrhunderts. Aber im Unterschied zu anderen europäischen Ländern gelang die Fusion von sozialistischen und republikanisch-radikaldemokratischen Splitterparteien zu einer geschlossenen, unter dem Namen PS auftretenden Formation erst 1971. Zehn Jahre später wurde François Mitterrand Präsident. Das Erbe dieser langen Segmentierung ist der PS geblieben. Noch heute besteht die Partei aus Familien genannten Fraktionen unter dem Firmennamen PS.

Familie klingt nach Idylle und Harmonie – oder Mafia. Treffender denn als Familie bezeichnet man den PS als Haifischbecken, in dem die Familienchefs umher gleiten, um sich offen oder versteckt zu attackieren. Das erlebte Martine Aubry, die Erste Sekretärin der Partei, nach der Wahlniederlage von Ségolène Royal gegen Nicolas Sarkozy 2007. Vor und auf dem Parteitag 2008 tobte der Streit der Clanchefs. Wider Erwarten gelang es der nur mit Ach und Krach zur Parteichefin gewählten Aubry, die Familien unter ihrer Führung zwar nicht zu vereinen, aber wenigstens zu disziplinieren. Keiner der Familienhäuptlinge revoltierte, als sie mit Dominique Strauss-Kahn vereinbarte, sie werde ihm bei der Präsidentschaftswahl 2012 den Vortritt lassen, wolle er gegen Sarkozy antreten. Dieser Präsident wusste sehr wohl, warum er seinen aussichtsreichsten Rivalen nach New York schickte. Von dort aus musste sich Strauss-Kahn Eingriffe in die französische Innenpolitik verkneifen.

Märtyrer der US-Justiz

Dann kam alles ganz anders. Nach schweren Vorwürfen wegen sexueller Übergriffe musste der IWF-Direktor seine Ambitionen aufgeben. Er wurde zwar mittlerweile teilweise entlastet, aber das Verfahren ist noch nicht zu Ende. Und genau das macht Martine Aubry zu schaffen. Wo sie zuletzt auch auftrat, war zu hören, „Mut, Vertrauen, Solidarität und die Fähigkeit zu sammeln“ – das seien ihre Trümpfe. Um die ziehen zu können, brauche man einen durchsetzungsfähigen Staatschef wie Strauss-Kahn. Seit der sich selbst schwer beschädigt hat, ist diese Verheißung passé. So hat Martine Aubry keine andere Wahl, als kurz vor Ablauf der PS-internen Bewerbungsfrist ihre Bereitschaft anzukündigen, sich dem Gegner Sarkozy 2012 selbst stellen zu wollen.

Damit steht dem PS ein Familienkrieg unter den aussichtsreichen Bewerben Martine Aubry und François Hollande sowie unter den Außenseitern Ségolène Royal, Arnaud Montebourg und Manuel Valls ins Haus. Über diesem Haifischbecken liegt die Drohung, Strauss-Kahn könnte sich – als Märtyrer der US-Justiz – doch noch zur Kandidatur entschließen. In den eher unzuverlässigen Umfragen stagnieren Hollandes Werte, während die für Aubry leicht steigen.

Martine Aubry ist die Tochter von Jacques Delors, unter Mitterrand Wirtschafts- und Finanzminister und von 1985 bis 1994 Präsident der EU-Kommission. Sie durchlief die Pariser Elitehochschule École Nationale d’Administra­tion, aus der Frankreichs Spitzenpolitiker in der Regel hervorgehen. Doch kennt Aubry nicht nur das Pariser Polit-Biotop. Nach Tätigkeiten in der Verwaltung und der Wirtschaft wurde sie zwar 1991 unter Edith Cresson Arbeitsministerin, ließ sich zugleich 1995 zur Bürgermeisterin in der nordfranzösischen Stadt Lille wählen. Ohne ihr kommunales Amt aufzugeben – in Frankreich für Spitzenpolitiker die übliche Absicherung gegen Karriere-Risiken –, wurde Aubry 1997 unter Lionel Jospin Ministerin für Arbeit und Solidarität. In dieser Funktion setzte sie die 35-Stundenwoche durch – gegen Wirtschaftlobbyisten und Heerscharen von Experten. Auch das Programm für die Einstellung von Berufsanfängern (Emploi-jeunes) trägt ihre Handschrift.

Schmutzkampagne der Rechten

Im Gegensatz zu ihrer innerparteilichen Konkurrentin Ségolène Royal gehört Aubry nicht zu den Glamour-Politikern. Als sie im März – also vor der Affäre Strauss-Kahn – das PS-Programmbuch mit dem Titel Pour changer de civilisation (Für einen Zivilisationswechsel) vorstellte, war das mit einer Offerte verbunden: Sie wandte sich nicht nur an Parteimitglieder (rund 230.000), sondern ebenso an Intellektuelle, Gewerkschafter und die Öffentlichkeit. Sie versprach eine zivilisatorische Offensive gegen Konkurrenz, Verarmung, Entsolidarisierung und die moralische Krise. Zudem will sie „ein anderes Wachstumsmodell“, das neben traditionell keynesianischen Forderungen auch Innovatives aufnimmt: etwa das Plädoyer für eine „Landwirtschaft der Nähe“ und für „neue Formen demokratischer Teilhabe“. In ihrer Kritik an Sarkozys Demagogie („Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen“) wirkt Aubry überzeugend und authentisch.

Unter allen sozialistischen Kandidaten ist sie im Übrigen die Einzige, die sich für den Ausstieg aus der Atomenergie ausgesprochen hat. Nach einer Umfrage von Le Monde halten bereits 52 Prozent der Franzosen eine Versorgung aus Erneuerbaren Energiequellen für „möglich“. Beim Treffen mit Piero Fasino vom italienischen Partito Democratico Italiano (PDI) Anfang Juli verständigte sie sich auf eine europafreundliche Politik. Bis jetzt haben sich Ex-Premier Laurent Fabius, der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë und 50 Intellektuelle hinter die Parteichefin gestellt. Was nichts daran ändert, dass der Ausgang von Primärwahlen innerhalb des PS ebenso offen ist wie der Erfolg einer Schmutzkampagne der Rechten gegen Aubrys Ehemann. Der Anwalt Jean-Louis Brochen wird als „Islamist“ denunziert, weil er 1983 muslimische Mädchen verteidigte, die wegen des Tragens von Kopftüchern von der Schule verwiesen wurden.

Rudolf Walther ist ständiger Frankreich- und Schweiz-Autor des Freitag

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