Selbstmord der Eliten

Alarmismus Der amerikanische Historiker Robert O. Paxton hat eine brillante "Anatomie des Faschismus" vorgelegt

Der Begriff "Faschismus" hat eine komplexe Geschichte. Das liegt zum einen daran, dass er so freigiebig verwendet wurde, bis er zum Schimpfwort für fast alles Missliebige taugte. Auch kommunistische Regimes, die sich als antifaschistisch etikettierten, diskreditierten den Begriff. Ein dritter Grund, auf den Begriff zu verzichten, entspringt dem Bedürfnis, das Besondere des Nationalsozialismus zu unterstreichen.

Das Buch des 1932 geborenen amerikanischen Historikers Robert O.Paxton, Emeritus an der New Yorker Columbia-Universität, über die Anatomie des Faschismus will die verschiedenen Ausprägungen faschistischer Herrschaft darstellen, aber vor allem das Gemeinsame in deren Skelett: "Ziel dieses Buches ist es, einen frischen Blick auf den Faschismus zu werfen, mit dem vielleicht das Konzept des Faschismus für eine sinnvolle Verwendung bewahrt bleibt, der zugleich aber stärker als bisher die Attraktivität, den komplexen historischen Werdegang und seine ultimativen Horror berücksichtigt."

Paxton beginnt sein Buch nicht mit einer Definition des Faschismus, denn Definitionen verengen den Blick. Sie liefern Standbilder, während es dem Autor um den historischen Prozess geht. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es in fast allen Staaten der Welt von Island bis Australien faschistische Bewegungen, aber nur in Deutschland und Italien - ansatzweise in Ungarn, Rumänien und Spanien - setzten sie sich durch. Warum das so ist, zeigen am besten Vergleiche.

Das Besondere bei Paxtons besteht darin, dass er weniger die Ideologie als vielmehr die Praxis des Faschismus analysiert. Seine Begründung: "Der Faschismus beruht eben nicht explizit auf einem elaborierten philosophischen System, sondern eher auf populären Gefühlen, Ansichten über ›Herrenrasse‹, deren ungerechtes Schicksal und gerechtfertigte Prädominanz über minderwertige Völker." Diese Akzentsetzung entspricht auch dem Selbstverständnis der Akteure. Mussolini antwortete auf die Frage nach seinem Programm: "Es besteht darin, diesen Demokraten ... die Knochen zu brechen. Und zwar je eher, desto besser."

Paxton gliedert seine Analyse mit einem fünfstufigen, chronologischen Zyklus: Das erste Stadium umfasst die Entstehung einer faschistischen Bewegung, das zweite deren Verankerung im politischen System, das dritte die Machtergreifung und das vierte die Machtausübung. Das letzte Stadium ist jenes der Radikalisierung oder des Niedergangs. Dass die vergleichende Betrachtung nicht in eine Gleichsetzung von allem mit allem mündet, macht Paxton gleich zu Anfang klar: "Obgleich jedes Stadium eine Voraussetzung für das nächste ist, muss keine faschistische Bewegung alle durch laufen oder gar nur in eine Richtung ... Und nur in Nazideutschland erreichte ein faschistisches Regime die äußersten Horizonte der Radikalisierung."

Paxton bindet die Existenz von Faschismus an eine vorgängige Zerstörung von Demokratie und/oder wenigstens Rechtsstaat. Deshalb fallen religiös motivierte Fundamentalisten jeder Art nicht unter den Begriff Faschismus, weil sie Nation durch Religion ersetzen und damit an "traditionelle hierarchische Gesellschaften" anknüpfen und nicht an die Abschaffung von Demokratie und/oder Rechtsstaat. Im Zuge des kruden Geredes von "Islamismus" und "Islamofaschimus" hinderte das einige Rezensenten nicht daran, Paxton vorzuhalten, er habe nicht erfasst, dass sich das gegenwärtige iranische Regime in der vierten und vorletzten Phase der Entwicklung des Faschismus befinde. Nach Saddam Hussein soll demnach Ahmadinedschad den Hitler spielen. Das ist politisch durchsichtig motivierter, ahistorischer Alarmismus, an dem Paxton nichts liegt.

Die entscheidenden Vorbedingungen für die Entstehung faschistischer Bewegungen waren laut Paxton der Verlauf und das Ende des Ersten Weltkrieges - das gilt insbesondere für die Verlierer Deutschland, Österreich, Ungarn und Italien. Das Königreich Italien gehörte zwar zu den Siegern, war aber trotz des Zuschlags des Südtirols und des Trentinos unzufrieden. In allen vier Staaten sind es perspektivenlose Kriegsveteranen, die faschistische Bewegungen gründen. Die alte Elite unter Admiral Miklos Horthy wandte sich gegen die sozialistische Räterepublik, die Bela Kun 1919 in Ungarn ausgerufen hatte. Horthys Gegenrevolution stütze sich auf eine Gruppe junger Offiziere. Diese waren in ihrem Nationalismus und Antisemitismus einig mit der alten Elite. Zu diesem Bündnis hinzu kamen die in ihrer Angst vor dem Bolschewismus nach rechts gerückten Mittelklassen.

Natürlich bestreitet Paxton den Einfluss von Ideologien aus dem späten 19. Jahrhundert - etwa des Antisemitismus - auf die Entstehung des Faschismus nicht. Aber die Konzentration der Forschung auf faschistische Ideologien und Vorläuferparteien findet Paxton irreführend. Mussolinis erste Beteiligung an Parlamentswahlen am 16. November 1919 belegt das. Er erhielt genau 4.796 von über 300.000 Stimmen in seinem Wahlkreis. Paxtons lapidares Fazit: "Bevor er zu einem ernsthaften Herausforderer auf der politischen Bühne Italiens werden konnte, hatte er einige Justierungen vorzunehmen."

Wichtiger als die theoretische Konsistenz waren für diese Justierungen die "mobilisierenden Leidenschaften". Dazu gehören ein Krisengefühl, der Glaube an die Vormacht einer Gruppe, der Glaube, die eigene Gruppe sei ein Opfer sowie die Angst vor dem Niedergang. Das allgemeine Wahlrecht bot reichlich Gelegenheit, diese Leidenschaften demagogisch zu mobilisieren - angesichts der Inflation. Ehemalige Soldaten, Erstwähler und verschreckte Mittelständler reagierten positiv auf das faschistische Angebot an Politikern, die jung waren und mit den grauen Eminenzen der Vorkriegspolitik nichts mehr zu tun hatten. Otto Kirchheimer sprach von den faschistischen Parteien zuerst als von "catch-all-parties". Wurde Politik vor 1914 unter Honoratioren ausgehandelt, galt es jetzt Massen zu gewinnen. Darin waren faschistische Bewegungen allen anderen Parteien überlegen.

In einem brillanten Kapitel vergleicht Paxton, wie und warum die faschistischen Bewegungen in der Po-Ebene und in Schleswig-Holstein Wurzeln schlugen. In beiden Gegenden entstanden bewaffnete faschistische Parallelstrukturen, die den liberalen Rechtsstaat entlegitimierten. Pikanterweise unterstützten die faschistischen Verbände in Italien die Großgrundbesitzer gegen die Tagelöhner und deren Gewerkschaft, in Schleswig-Holstein dagegen schlugen sich die Kampfverbände der Nazis auf die Seite der verarmten Bauern. In den Augen vieler bildeten diese Kampfverbände allein ein Bollwerk gegen die "rote Gefahr". Die rechten Bewegungen waren erfolgreich, weil die liberalen, konservativen und sozialistischen Parteien keine Antwort auf die Krise hatten. Gleichzeitig schafften die faschistischen Führungen einen Spagat zwischen revolutionärer Rhetorik auf der einen und ideologischer Abrüstung auf der anderen Seite, was eine punktuelle Zusammenarbeit mit den alten Eliten ermöglichte und die Mittelklassen beruhigte. Wo Faschisten die reine Lehre vertraten - wie in Frankreich - blieben sie erfolglose Sekten.

Die Machteroberung der Faschisten ist in Deutschland wie in Italien von Legenden umwoben. Paxton dagegen zeigt: "Es waren nicht die faschistischen Parteien, die den Staat umstürzten, obwohl sie einen Teil zu seiner Selbstblockade beigetragen hatten ... Die konservativen Eliten wählten die faschistische Option."

Es waren also politische Entscheidungen der konservativen Eliten, die zum Umsturz führten, weil diese der Demokratie und dem liberalen Rechtsstaat nicht mehr zutrauten, die Krise zu bewältigen. Mussolini und Hitler sind legal, wenn auch ohne parlamentarische oder plebiszitäre Mehrheit an die Macht gelangt. Selbst bei den Märzwahlen 1933 erhielt Hitler "nur" 43,9 Prozent der Stimmen. Richtig freie Hand erhielt er jedoch erst nach der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes am 24.3.1933, dem außer die NSDAP, auch die konservativen Helfer auf dem Weg zur Macht zustimmten - also das katholische Zentrum, die Deutschnationalen und einige Kleinparteien. Nach der Selbstabdankung kam der Selbstmord der konservativen Elite.

Die Darstellung des Faschismus an der Macht in Deutschland und Italien überzeugt ebenso wie der Überblick über dessen Radikalisierung durch die Nazis. Die abschließende Frage, ob Faschismus heute noch möglich sei, beantwortet Paxton sehr umsichtig. Über das erste Stadium hinaus, das heißt die Übernahme einzelner faschistischer Ideologeme sind bislang in Westeuropa nur rechtsextreme Bewegungen gelangt, die sich zu - so Paxton - "äußerlich gemäßigten Parteien normalisierten." Le Pens Front National und Finis Alleanza Nazionale verzichten denn auch auf faschistische Rhetorik und Praxis. In Osteuropa und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion liegen die Dinge komplizierter.

Die Studie ist ohne Zweifel ein ganz großer Wurf. Sie besticht nicht nur durch die souveräne Durchdringung einer riesigen Stoffmasse, sondern auch durch ihre analytische Schärfe und ihre sprachliche Meisterschaft. Hilfreich und leserfreundlich ist auch die umfangreiche und kommentierte Bibliografie.

Robert O. Paxton: Die Anatomie des Faschismus. Aus dem Englischen von Dietmar Zimmer. DVA, München 2006, 448 S., 24,90 EUR


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