Vor fast 25 Jahren verhinderten zwei bis drei Dutzend jüdische Bürger die Uraufführung von Rainer Werner Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod, indem sie die Bühne des Frankfurter Schauspiels besetzten. Die Demonstranten spekulierten darauf, Intendant Günther Rühle werde sein Hausrecht nicht polizeilich durchsetzen lassen. Dass diese Spekulation aufging, hat mit der ziemlich komplexen Vorgeschichte des Stücks und dem politischen Klima damals zu tun.
Fassbinder schrieb das Stück bereits 1975 – sozusagen als Abschiedsgeschenk für die Stadt Frankfurt, die er als Direktor des legendären TAT (Theater am Turm) nach nur einem Jahr verließ. Die Vorlage für das Stück war der Roman Die Erde ist so unbewohnbar wie der Mond von Gerhard Zwerenz. Roman wie Drama handeln von den unglaublichen Geschichten rund um die Bauspekulation im Frankfurter Westend. Daran beteiligt waren die Stadtverwaltung, Spekulanten – darunter einige jüdischer Herkunft und im Rotlicht-Milieu reich gewordene Figuren – sowie im Hintergrund und als treibende Kraft: das Finanzkapital. Betroffen waren von der Spekulation die Westend-Bewohner – herausgefordert fühlten sich viele „Veteranen“ der Studentenbewegung von 1968, die nun einen Häuserkampf ausfochten und zahlreiche Spekulationsobjekte im Westend besetzten. Damit wiederum kam die Frankfurter Polizei – mit ihrem Prügelpräsidenten Knut Müller – ins Spiel, der für die Politik, Spekulanten und Banken die Drecksarbeit leisten musste, indem er Hausbesetzer rigoros vertreiben und Demonstranten verprügeln ließ. Es gab im Frankfurter Häuserkampf auch kopflos-rassistische Polemiken von Hausbesetzern gegen einzelne jüdische Spekulanten, doch blieben diese Ausfälle marginal.
Vermeintliche Antisemiten
Eine erste Aufführung des Stücks wurde 1976 durch das Zusammenspiel von jüdischer Gemeinde, CDU und SPD verhindert – der damalige Theaterdirektor musste daraufhin gehen. Die Zeitschrift Theater heute sprach von einem „zensurähnlichen Klima“ in Frankfurt. Aber es kam noch viel dicker, als Joachim Fest, Mitherausgeber der FAZ, mit einem Artikel intervenierte. Es war die pauschale Abrechnung eines Konservativen mit allem, was er für links hielt. Mit dem Fassbinder-Stück hatte der Text fast nichts zu tun. Fest wollte die Linke delegitimieren, bastelte sich die Schießbudenfigur des „Linksfaschismus“ und geißelte Kritik an der Politik Israels als „Antisemitismus“. Linke und linksliberale Journalisten, überhaupt viele Intellektuelle durchschauten Fests Spiel und wiesen die „Reizworttransplantationen“ (Wolfram Schütte) als deutschnationale Entlastungs- und Ausstiegsstrategien aus der geschichtlichen Verantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes zurück.
Nach 1976 gab es bis zu Fassbinders Tod im Jahr 1982 acht weitere Versuche, das Stück auf die Bühne zu bringen. Die Zensur – kaschiert als Prävention gegen Antisemitismus – funktionierte jedes Mal landesweit. Die Jagd auf vermeintliche Antisemiten wurde nach der Israel-Reise von Kanzler Helmut Kohl im Februar 1984, mit der er „die Gnade der späten Geburt“ als Entlastungsargument einführte, zur Keule im ideologischen Nahkampf. Lea Rosh, Henryk M. Broder und andere machten die Entlarvung von „Neo-Antisemiten“ – sprich: Kritikern der israelischen Besatzungspolitik – zu ihrem Geschäftsmodell.
„Antisemitisch“ wurde nun nicht nur Kohls dumpfes Gerede genannt, sondern auch sein Schulterschluss mit Präsident Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg im Mai 1985. Hier reichten sich Sieger und Besiegte über den Gräbern der Täter in elender Pose die Hände zur Versöhnung, während man die Opfer schlicht vergaß. Das Schmierenstück von Bitburg wurde zu einem Symbol der Ära Kohl – mit Antisemitismus hatte es freilich nichts zu tun.
Im Windschatten der Antisemiten-Debatte gefielen sich die deutschnationalen Stahlhelmer in der CDU und die Berufsvertriebenen in historischem Revisionismus. Wahrnehmung und Deutung des Zweiten Weltkrieg sollten korrigiert, die Verbrechen der Wehrmacht relativiert werden. Alfred Dregger, seinerzeit im Bundestag Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion, bekannte sich stolz dazu, bis zum letzten Tag des Krieges die „Freiheit des Westens“ gegen die kommunistische Gefahr „verteidigt“ zu haben. Die CDU inszenierte diese Kampagne unter dem Schlagwort „Rückkehr zur Normalität“. Dazu gehörte unter der Kohl-Regierung, dass es den Berufsvertriebenen des BdV zugestanden wurde, den Massenmord an den europäischen Juden mit den deutschen Opfern der Vertreibung buchhalterisch aufzurechnen. Zu diesem Normalisierungswahn Helmut Kohls passte es, dass durch seine Intervention Veteranenverbände wieder salonfähig wurden, weil er sie aus dem jährlichen Verfassungsschutzbericht tilgen ließ.
Mitten in diese Debatten platzte Intendant Günther Rühle mit seinem Plan, das Fassbinder-Stück – zehn Jahre nach der Veröffentlichung als Buch – in Frankfurt am Main uraufzuführen. Mittlerweile gingen auch Teile der Linken bei jeder Gelegenheit mit dem Antisemitismus-Vorwurf hausieren. Dan Diner etwa meinte in der Zeitschrift links apodiktisch: „Auch wenn die Absicht Fassbinders darauf hinauslief, Antisemitismus durch die Darstellung des antisemitischen Stereotyps vom Juden allgemein erkennbar zu machen, ist seine Wirkungsweise in Deutschland antisemitisch.“ Er hätte auch sagen können, „antisemitisch ist, was ich für antisemitisch erkläre“.
Worum es wirklich ging
Genau so argumentierten dann vor der Aufführung jüngere Vertreter der jüdischen Gemeinde, als sie sich auf „die Gefühle der Kinder der Geretteten“ beriefen, um ein Stück als antisemitisch zu denunzieren, das sie noch nicht gesehen hatten. Die jüdische Gemeinde mauerte sich mit dem Hinweis ein, nur Juden könnten Juden verstehen. Sie wollten keinerlei Einwände oder Erklärungen mehr hören und versteckten sich hinter Scheinargumenten, die Rechtsbruch und Selbstjustiz als unvermeidbar hinstellten.
In banausischer Manier verwechselten die Fassbinder-Kritiker seine fiktiven und stilisierten Theaterfiguren mit realen Tätern. Fassbinders Hauptfigur des reichen jüdischen Spekulanten wollte jedoch nicht jüdische Bürger verletzen oder nicht-jüdische Bürger aufhetzen, sondern demonstrieren, wie das deutsche Bank- und Finanzkapital unter dem Schutz von Stadtregierung, Planungsbehörden und Polizei dubiose Spekulanten (darunter auch solche jüdischer Herkunft wie Ignaz Bubis) schamlos für ihre Interessen instrumentalisierte. Mit dem vorgeschossenen Geld deutscher Banken kauften diese Spekulanten ganze Wohnhausreihen, „entmieteten“ sie in kürzester Zeit und machten die Immobilien so für kapitalkräftige Investoren „abbruch- und baureif“ für Bürotürme und Geschäftshäuser. Die Spekulanten in der Realität wie jene auf der Bühne waren nicht Täter, sondern Marionetten, deren Fäden erst eine SPD-, dann eine CDU-Stadtregierung und natürlich etliche Bankhäuser in ihren Händen hielten.
Fassbinders Stück, das mit Sicherheit nicht zu seinen besten, aber zu seinen wichtigsten zählt, zeigte dieses „rechte Power-Kartell“ (Peter Iden) aus Politik, Verwaltung, Spekulanten und Banken und bot damit eine Vorlage für eine politische Debatte. Dieses „Power-Kartell“ und nicht das Phantom Antisemitismus oder „antisemitische Ressentiments“, über die auch linke Intellektuelle wie Detlev Claussen wortreich raunten, waren das Thema der Stunde. Die gutmeinenden Bühnenbesetzer vom 31. Oktober 1985 wollten das nicht begreifen und stellten sich unbewusst in den Dienst eben dieses Interessenkartells, das nichts so scheute wie die öffentliche Diskussion. Worum es wirklich ging, hatte ein älterer Mann den verbiesterten jugendlichen Demonstranten vor dem Theater erfolglos zu erklären versucht: „Meine Familie ist in Konzentrationslagern ermordet worden. Doch sie sind nicht dafür gestorben, dass sich heute ein Bande von Spekulanten hinter ihnen versteckt.“
Rudolf Walther ist ein langjähriger Freitag-Autor
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