Vergöttlichte Kultur

Gipfelhüpfen Der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2006, der Berliner Soziologe Wolf Lepenies, wärmt den Gedanken von der Politikferne der Kultur auf

Der Soziologe und Philosoph Wolf Lepenies erhält in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der 1941 geborene Wissenschaftler war Professor in Berlin und arbeitete an Forschungsinstituten in Paris und Princeton. 1986 wurde er zum Rektor des Wissenschaftskollegs in Berlin gewählt und entfaltete während 15 Jahren bis zu seinem Rücktritt 2001 beachtliche Fähigkeiten als Wissenschaftsmanager. Er ist Mitglied mehrerer Akademien und seit 2004 auch Aufsichtsrat bei der Axel Springer AG. Sein bestes Buch ist Melancholie und Gesellschaft, mit dem er 1967 promovierte.

In seinem jüngsten, gerade erschienenen Buch Kultur und Politik. Deutsche Geschichte beschäftigt er sich mit einem "deutschen Schlüsselwort", der Kultur, beziehungsweise einer spezifisch "deutschen Haltung", dem Verhältnis von Kultur und Politik. Die Hauptthese, wonach in Deutschland Kultur lange Zeit "im Kern eine apolitische oder vielleicht sogar antipolitische Stoßrichtung" besessen habe, stammt von Norbert Elias. Lepenies hat zu diesem Thema schon öfter in Vorworten und Vorträgen Stellung genommen - so 1985 in seiner Einleitung zum Buch Die drei Kulturen oder in einem Vortrag, den er 1986 zum Thema "Die Idee der deutschen Universität" hielt. Es ist sein Dauerthema.

Das Misstrauen von Kulturschaffenden und Intellektuellen gegen Politik und die Überordnung der Kultur gegenüber der Politik hat in der Tat eine lange Tradition und richtete sich gegen die autokratische Fürstenpolitik ebenso wie gegen die konstitutionelle Monarchie und den demokratischen Parlamentarismus. Das Ausspielen von Kultur gegen Politik gab es von der Weimarer Klassik bis in die jüngste Gegenwart. Freilich ganz so exklusiv deutsch ist diese "deutsche Haltung" (Lepenies) nicht, denn diese lässt sich, wie der Autor zeigt, auch in Spanien, Russland und Irland nachweisen.

Für die Klassik stehen Goethe, Schiller und Wilhelm von Humboldt, der am 18. März 1799 an Goethe schrieb: "Wer sich mit Philosophie und Kunst beschäftigt, gehört seinem Vaterland eigentümlicher als ein anderer an." Spätere Interpreten wie Hellmuth Plessner diagnostizierten eine religiöse Einfärbung der Kultur und einen Betrieb um diese, die einem "Gottesdienst ohne Gott" gleiche. Parallel mit der Vergöttlichung der Kultur verlief in der deutschen Geschichte die Verachtung der Politik und des Sozialen.

Eine Ausnahme bildet Nietzsche, der als Soldat bei der Reichsgründung gleichsam mitwirkte, danach aber entschieden auf Distanz zum "deutschen Reich" ging. Er sah darin geradezu "die Exstirpation (Ausrottung RW) des deutschen Geistes zu Gunsten des ›deutschen Reiches‹" und im "Cultur-Staat bloß eine moderne Idee", mit der kaschiert werde, dass der Sieg der Politik bezahlt werde mit dem kulturellen Niedergang.

Einen ersten Höhepunkt erlebte die Debatte um Kultur und Politik im Ersten Weltkrieg. Mit dem Aufruf von 56 deutschen Professoren "An die Kulturwelt" (4.10.1914) und zahlreichen weiteren Appellen, die bis zu 3000 Hochschullehrer unterzeichneten, kam es zu einer Wende. Der Kulturbegriff wurde jetzt rabiat politisiert und mit dem Militarismus kurzgeschlossen: "Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur schon längst vom Erdboden verschwunden." Eine Schlüsselrolle spielte dabei Thomas Mann mit seinem Essay Gedanken im Krieg (1915) und dem 600 Seiten starken Pamphlet Betrachtungen eines Unpolitischen (1918). Ähnlich wie die Professorenaufrufe sah er den "Militarismus als Erscheinungsform deutscher Moralität" und spielte ebenso wie diese die Kultur gegen Politik und die Zivilisation aus. Politik war für Thomas Mann "eine Sache der Vernunft, der Demokratie und der Zivilisation", also eine undeutsche Angelegenheit. Deutschland stand dagegen für "Kultur, Seele, Freiheit, Kunst."

Während sich Thomas Mann von diesen reaktionären Fixierungen schnell löste und 1930 ganz entschieden für die Demokratie eintrat, pflegte sie Gottfried Benn weiter. Eine Steigerung erfuhr die Entgegensetzung von Kultur und Politik durch die Nationalsozialisten, die "die deutscheste aller Ideologien" (Lepenies) erfanden - die Idee nämlich, wonach Kultur eine Kompensation oder gar eine Steigerungsform der Politik sei: "Kriege kommen und vergehen. Was bleibt, sind einzig die Werte der Kultur" (Adolf Hitler).

Das sind alles nicht ganz neue Einsichten, Lepenies präsentierte sie in den letzten zwanzig Jahren schon öfter fein dosiert und immer prägnant formuliert. Interessanter sind Ausblicke auf die angelsächsische Welt. Die amerikanische Literatur des 19. Jahrhunderts orientierte sich zwar an der deutschen Klassik und Romantik, übernahm aber weder die Gegenüberstellung von Kultur und Politik noch die konservative oder reaktionäre politische Orientierung. Walt Whitman, der amerikanische Lyriker etwa, setzte 1871 auf eine demokratisierte Kultur mit der paradoxen Wendung: "Erscheint, ihr demokratischen Beherrscher (democratic despotes) des Westens!" Gut hundert Jahre später beschäftigte sich der Literaturwissenschaftler Allan Bloom in seinem Bestseller mit dem Niedergang des amerikanischen Geistes (1987) und drehte den Spieß um. Verantwortlich für den Niedergang machte er in ausgesprochen polemischer Weise die Rezeption von deutschen Autoren (Max Weber, Heidegger, Adorno, Nietzsche, Marx und Freud), die er alle mehr oder weniger des Irrationalismus bezichtigte, der "das rationale Projekt" Amerikas zersetzt habe.

Was als Aperçu oder Anekdote zu "Kultur und Politik" reizvoll klingt, wirkt allerdings auf Buchlänge ausgewalzt etwas ermüdend. Obendrein erweist sich die Ausgangsthese als immer wackliger. Die Politikferne der deutschen Kultur seit der Klassik ist unbestritten, aber zum Gegensatz von Kultur und Zivilisation oder den "Ideen von 1914" und den "Ideen von 1789" (Johannes Plenge), mit dem eine Politisierung des Kulturbegriffs verbunden war, kommt es erst mit dem Ersten Weltkrieg. Der Zürcher Historiker Jörg Fisch hat schon vor Jahren gezeigt, dass die These von Norbert Elias, "der Kulturbegriff betone das Nationale, der Zivilisationsbegriff dagegen das Übernationale" (Fisch) nicht haltbar ist. Es handelt sich dabei um eine Konstruktion, die einen Gegensatz, der erst um 1914 aufkommt, ins 19. Jahrhundert zurückprojiziert. Wie evident das ist, kann man daraus ersehen, dass Lepenies gelegentlich von "deutsch-französischen Kulturkriegen" oder einem Gegensatz von Kultur und Zivilisation spricht, aber trotz der Belegfülle keinen einzigen für das 19. Jahrhundert beibringt. Gegenteilige Aussagen, die auf eine weitgehend synonyme Verwendung von Kultur und Zivilisation im 19. Jahrhundert verweisen, gibt es dagegen in großer Zahl. Der Literaturkritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve, über den Lepenies ein Buch geschrieben hat, sprach 1868 ganz selbstverständlich davon, Frankreich und Preußen stünden "an der Spitze der europäischen Zivilisation."

Mit der unhistorischen Konstruktion direkt verbunden ist ein Mangel des jüngsten Buches. Lepenies überbetont die Kulturbefangenheit und Politikferne der deutschen Intelligenz im 19. Jahrhundert und übersieht dabei die zugegeben minoritären Strömungen von der demokratischen Bürgerbewegung im Vormärz und der Paulskirche bis zur Aktivität von Intellektuellen in der Arbeiterbewegung. Es ist eine grobe Verzeichnung der historischen Tatsachen, wenn Lepenies suggeriert, liberale, republikanische und demokratische Intellektuelle seien allesamt aus Deutschland emigriert.

Schließlich gleicht Lepenies´ Darstellung der Vergöttlichung der Kultur einem Gipfelhüpfen von Goethe, Schiller, Thomas Mann, Gottfried Benn, Arnold Gehlen zu Theodor W. Adorno. Das ist nicht uninteressant, aber spannender wäre es, wenn man auch erführe, wie der abgehobene Kulturbegriff rezipiert beziehungsweise durch Medien und Schulen nach "unten" durchgereicht wurde, wie er dort ankam und was er dort bewirkte. Das Buch hängt in der Luft, ihm fehlt der sozialgeschichtliche Unterbau. Wie hat, um nur ein Beispiel zu nennen, der protestantische, nationale und wilhelminische Oberstudienrat die Kulturreligion vermittelt und wie wirkte sie "unten"?

Durch Zufall sind vier Aufsätze von Berliner Gymnasiasten erhalten geblieben, denen 1901 das folgende Aufsatzthema gestellt wurde: "Die Beinstellung der Denkmäler in der Siegesallee." Im Tiergarten wurden zwischen 1898 und 1901 32 Marmorstandbilder von brandenburgisch-preußischen Herrschern aufgestellt. Kaiser Wilhelm II. muss von diesen Aufsätzen gehört haben, denn die vier überlieferten hat er mit Randbemerkungen wie "Donnerwetter!" und "kühn" versehen.

Thomas Manns Verschwisterung von Kultur und Militarismus von 1914 jedenfalls nimmt jener Primaner 1901 vorweg, der gleich von vier Herrschern sagt, "die kriegerische Beinstellung" der Skulptur lasse darauf schließen, dass diese "es gut verstanden das Schwert zu führen, besonders Joachim Hektor (1505-1571)." Der sei "ein Mann ... der sein Recht mit dem Schwert sucht." Ein anderer Schüler schrieb: "Wir sehen unter dem Fuße die Maske eines Kriegers, auf die Albrecht zum Zeichen seines Sieges seinen Fuß setzt. Hierdurch werden wir an Albrechts harte Kämpfe mit den Wenden erinnert, aus denen er, dank seinem unbeugsamen Wesen, als Sieger hervorging." Albrecht der Bär (1100-1170) unterwarf die Wenden und christianisierte sie mit brutaler Gewalt. Man spürt förmlich die kulturell und religiös überhöhte Totschlägermentalität, wie sie den Schülern von Oberstudienräten, die notorisch Reserveoffiziere waren, eingetrichtert wurde.

Ein sozialgeschichtliches Fundament seiner Analyse hätte Lepenies auch vor rein geistesgeschichtlich gelagerten Spekulationen wie der folgenden bewahrt: "Vieles, was auf der Bühne des ›Dritten Reiches‹ vor sich ging, sah aus, als sei es von Bayreuth aus inszeniert worden." Das ist genau so grotesk überzeichnet, wie die Rede davon, in der Tschechoslowakei hätte 1989 "die Kultur über die Macht" gesiegt. Vaclav Havel war kaum an der Macht, regierten dort Nationalisten, Neoliberale und Antisemiten und betrieben gemeinsam die Spaltung des Landes.


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