Was sich als Volk fühlt, soll ein Volk sein

Sudan Das Selbstbestimmungsrecht ist viel zu widersprüchlich, um jede Sezession wie eine Selbstverständlichkeit zu rechtfertigen, der auf jeden Fall nachgegeben werden muss

Was den Ausgang des Referendums über die Sezession des Südsudan angeht, ist Wahlbeobachter und Ex-Präsident Jimmy Carter optimistisch: „Für mich steht es außer Frage, dass das Ergebnis der Abstimmung ohne ernsthafte Einsprüche akzeptiert wird.“ Klarer sehen wird man freilich erst im Sommer, wenn die Abspaltung des Südens vom Norden vollzogen und von der Afrikanischen Union (AU) sanktioniert werden soll, obwohl der Vorgang AU-Statuten verletzt. Afrikas Staatengemeinschaft verordnet ihren derzeit 53 Mitgliedern Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, eine blockfreie Außenpolitik und territoriale Unverletzlichkeit. Im Klartext – keine Grenzkorrekturen, keine Sezessionen. Bislang gibt es auf dem Kontinent nur eine halbwegs akzeptierte Abspaltung – die Eritreas, die allerdings von Äthiopien nicht anerkannt ist und deshalb durch UN-Truppen geschützt wird.

Der sudanesische Konflikt forderte bei zwei Bürgerkriegen zwischen 1956 und 2005 über zwei Millionen Tote. Er wird angeheizt durch Spannungen zwischen dem muslimischen Norden und dem christlichen Süden sowie durch den Kampf um Weideland zwischen Nomaden und sesshaften Bauern sowie um die Ölquellen im Süden. Aus dem Ölexport finanziert die Regierung Omar al-Bashirs in Khartum ganze 65 Prozent ihres Staatsbudgets.

Irreführende Fiesta-Folklore

Wie in einem Brennglas gebündelt, treffen diese Konflikte in der Provinz Abyei aufeinander. Durch die Abspaltung des Südens würde das Volk der Misseriyas aus dem Norden Weideland in Abyei verlieren – und das bis zum überlebenswichtigen Fluss Bahr al-Gazal. Das Volk der Ngok-Dinka im Süden umfasst nur rund ein Drittel der Einwohner, aber seit der Vermittlung einer Waffenruhe (2004) und eines Friedens (2005) streben die Ngok-Dinka die Vorherrschaft im Süden an. Die südsudanesische Befreiungsarmee hat sich zwar 2005 zum Sudan People’s Liberation Movement (SPLM) zivilisiert, bleibt aber bewaffnet und militant.

In Abyei wollten die Misseriyas ihre alten Weiderechte im Süden dadurch sichern, dass es beim jetzigen Votum ein Stimmrecht auch für all jene aus ihrem Volks gab, die ihr Vieh nicht im Süden weiden lassen. Obendrein beansprucht dieses Nomadenvolk für die Zeit nach der Sezession eine doppelte Staatsbürgerschaft im Süden und Norden. Solche Begehren – nicht die in Europa kolportierte Fiesta-Folklore beim Urnengang – sind Indikatoren der tatsächlichen Lage.

Der Konflikt hat völkerrechtlich eine recht prinzipielle Seite, wenn etwa unter der verführerischen Parole kolportiert wird, eine Sezession sei als Ausdruck des „nationalen Selbstbestimmungsrechtes“ selbstverständlich und „natürlich.“ Der Zürcher Historiker Jörg Fisch hat jüngst in seiner brillanten Studie Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion auf die widersprüchlichen, nicht tragfähigen Fundamente eines solchen Selbstbestimmungsrechts hingewiesen, beruht es doch auf einem doppeltem Paradoxon: Worin besteht das Selbst, das sich selbst bestimmen soll, und wer bestimmt, wer das Recht auf Selbstbestimmung in Anspruch nehmen darf? Selbstbestimmung im strikten Sinn kann es nur geben, wenn keine andere Herrschaft existiert – ein in der Geschichte unbekannter Zustand. Im Sudan gibt es eine Regierung, ein Abgang des Südens kann demnach nur erfolgen, wenn der Norden auf seine Herrschaftsrechte oder der Süden auf volle Eigenstaatlichkeit verzichtet.

Seit 1966 das Selbstbestimmungsrecht in der UN-Deklaration über bürgerliche und politische Rechte festgeschrieben wurde, gilt es – so Jörg Fisch – als „Versprechen, das nicht eingelöst werden kann“. Lenins Definition des „Selbstbestimmungsrechts der Nationen“, verstanden als Recht einer Gruppierung zur „staatlichen Lostrennung von fremden Nationalgemeinschaften“, bringt das Paradox endgültig auf den Punkt. Nähme man den Satz wörtlich, verschwänden die meisten Staaten, denn was eine Nation oder ein Volk ausmacht, ist umstritten.

Im Handstreich

Die Unterscheidungskriterien nach Herkunft, Sprache, Religion, Ethnie oder Kultur sind nämlich nicht objektiv zu definieren, was an den Kriterien Sprache und Religion leicht einzusehen ist. Was geschieht mit den Mehrsprachigen? Wie soll eine Religionszugehörigkeit objektiv überprüft werden? Wanderungsbewegungen – eine Million Südsudanesen wohnen im Norden – und ethnische Vermischung durch Heirat machen die Trennschärfe dieser Kriterien illusorisch.

Der Begriff „Selbstbestimmungsrecht“ ist sehr jung und kam erst im 19. Jahrhundert auf. Der konservative Rechtsphilosoph Friedrich Julius Stahl erkannte schon 1856 das Paradoxon jeder Selbstbestimmung von Kollektiven wie Völkern oder Nationen: „Da die Nationalitäten auch in den Wohnsitzen nicht geschieden“ sind, kann man „die eine (Nation, R. W.) nicht befreien, ohne die andere zu unterdrücken.“

Plebiszite, das wird sich vermutlich im Sudan bald zeigen, werden von einer Seite meistens abgelehnt. Mangels einer stichhaltigen und akzeptablen Definition dessen, was ein Volk ausmacht, behalf man sich mit einer Hilfskonstruktion, um den Ist-Zustand im Handstreich zum Soll-Zustand zu erklären. Das heißt, man drechselte den Status quo zum rechtmäßigen Zustand: Was sich als Volk fühlt oder zum Volk ernennt, soll auch ein Volk sein und einen eigen Staat gründen dürfen. Die lateinische Formel dafür heißt uti possidetis, ita possideatis (wie ihr besitzt, so sollt ihr besitzen). Wie aussichtslos die Besitzformel ist, wird sich im Sudan erweisen: der Süden besitzt das Öl, der Norden die Pipelines.

Rudolf Walther, sonst Frankreich-Autor des Freitag, erweitert sein Thementableau

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