Benefizkonzerte gehören zu den Gräuslichkeiten der Popmusik. Sie bestehen letztlich aus Lobeshymnen, mit denen die Rock- oder Popprominenz ihr Ego sozialtauglich pflegt. Der „Showbizschmus“ dient kollektiver Selbstverherrlichung der jeweiligen Popkultur-Generation (heute perfektioniert von Madonna, Bono und Sir Bob Geldof). Greil Marcus, einer der Gründerväter der kulturwissenschaftlich verfahrenden Rockkritik, hat keinerlei Sympathie dafür, dass auch Bob Dylan in den achtziger Jahren an so einem Medienspektakel partizipierte.
Wie gnadenlos der Kritiker sein kann, zeigt ein Artikel vom Oktober 1998 mit dem Titel Folkmusik heute – Das Grauen. Ihn nerven Patti Smiths Predigten, Ani DiFrancos präzis-geplante Feier von Authentizität, sogar die Revivals um Pete Seeger und Woody Guthrie. Über die Ikone Pete Seeger äußert er, dessen Songs handelten eigentlich nur von einer Welt: von seiner. Naive Betroffenheitslyrik, garniert mit tief empfundener Frömmigkeit, die ganze Riege der „New Dylans“ findet Marcus unerträglich. „Grenzdebil“.
So kommt auch Dylan, dessen Spuren Marcus in Texten aus mehr als vier Jahrzehnten verfolgt, in den Genuss maliziösester Attacken. Die Besprechung des Albums Street Legal (1978) kann man einem ambitionierten Rhetorikkurs als kleine Schule sarkastischer Prosa empfehlen.
Karikatur des Protestsongs
Der in Berkeley, Princeton und an der New Yorker New School Lehrende mag nicht den Elvis-Imitator, nicht die Alben der religiösen Phase und erstaunlicherweise auch nicht be- und gerühmteste Protestsongs des Frühwerks. „Blowin’ in the Wind“ hält er für unauthentisch, „Masters of War“ für zu selbstgerecht, die Karikatur des Protestsongs. Und die Hymne „The Times They Are A-Changin’“ scheint ihm vom Zeitgeist geschrieben, gar von einem Komitee in Auftrag gegeben. Jeder, der sich über die Überschätzung Dylans geärgert hat, findet bei Greil Marcus ein Paradies griffiger Formulierungen und Beweisstücke.
Ein Fest für Dylan-Hasser sind Bemerkungen von 1986: Dylans Musik sei inzwischen allenfalls als Neurotizismus von Interesse. In den späten siebziger und den achtziger Jahren fällt Marcus außer bösartigen Vergleichen mit Budweiser-Werbespots fast nichts mehr zu Robert Allen Zimmerman ein. Woher kommt die Schärfe der Attacken?
Das Ätzend-Verletzende in den Formulierungen liegt nicht nur an der Freude an messerscharfen Zuspitzungen, es erklärt sich aus den Erwartungen des Kritikers und der Fans. Ging es doch um einen Sänger, der einmal an der „Weltenkreuzung“ stand, der für eine Weile eine Bühne besetzte, die andere nach ihm lediglich betraten – so Marcus 1998 in seiner beeindruckenden Studie über Dylan und das alte, unheimliche Amerika. Diese Position konnte und wollte Dylan, Prophet wider Willen, in den Jahren nach 1970 nicht mehr verteidigen. Der Held der Popkultur wurde in Marcus’ Sicht zum Karrieristen. Doch gab es immer auch die andere Seite von Dylan (immerhin stammt „Blind Willie McTell“ aus dieser Zeit). Ab 1993 sichtet der poet laureate of Rock ’n’ Roll endlich neues Land mit Good As I Been To You – das er mit dem Album Time Out of Mind 1997 erreicht und später kultiviert.Marcus’ Interesse erwacht wieder. Er sieht Dylan in Bewegung, auf der offenen Straße, die nicht dem Klischee einer falschen Rock-’n’-Roll-„Freiheit“ entspricht.
Gott und Abraham
Nun ist Bob Dylan das ständige Unterwegssein eine nie versiegende Quelle der Inspiration. Dessen „Highway 61“ steckt voller Überraschungen. Ein respektloses Gespräch zwischen Gott und Abraham findet statt, ein Spieler, der einen Weltkrieg entfesseln will, beredet mit einem Promoter sein Projekt, man kann den Weltuntergang von einer Tribüne am Straßenrand beobachten. Ein Telos gibt es nicht. Das eigentlich Schockierende an diesem Song sei, dass er einen Ort beschreibt, an dem die Menschen täglich leben, sich ihren Fantasien hingeben, an dem sie festsitzen innerhalb der Grenzen des Vertrauten.
Im Songepos „Highlands“ (1997), einer Dokumentation eines Tages wie eines Lebens, wird diese Geschichte weitererzählt. Die Grenzen zwischen der Straße der Trostlosigkeit und der Außenwelt scheinen verschwunden. Die „Desolation Row“, so der Name eines Songs von 1965, ist für Dylan eine Welt, in der Kultur bestenfalls Verfall, schlimmstenfalls Betrug ist, so sieht es Marcus. Als Abfallhaufen verpasster Chancen, Torheit, Narzissmus, Sünde. Ein Karneval, auf dem Ketzer und Hexen, die Vorfahren der Bohemiens der modernen Welt, ihre Zeremonien abhalten. Und der, der sie beschreibt, ist ein Folksänger im Dylan’schen Sinne. Dem 21. Jahrhundert präsentiert er sich als ein beinahe „verrückter“ Mensch. Greil Marcus skizziert in seiner fantasievollen Besprechung von Love and Theft den Dylan von heute.
Ein Mann, der mitternächtliche Spaziergänge bis zum Stadtrand unternimmt, Handke darin nicht unähnlich, der vor sich hin murmelt und über die Dinge schimpft, die er hasst. Noch immer treibt ihn eine Welt um, die eine der Zurückweisung, des Nichts ist. Nun aber mit dem Humor von Menschen, die tot in der Gegend herumlaufen, weil der Friedhof voll ist. Nach Greil Marcus muss der Künstler dem Chaos eine Form geben. Dies gelingt Dylan in Time Out of Mind. Es liegt nicht zuletzt an dieser Stimme, aus der gelegentlich „ein einzelner mit fünfzig Staaten und vierhundert Jahren in der Stimme zu sprechen scheint“. Seit Sean Wilentz’ Maßstäbe setzender Studie Bob Dylan in America wissen wir, dass wir über die USA viel lernen können, wenn wir Dylans Songs hören und die Reaktionen von Fans, Gegnern, Professoren, Präsidenten auf diese studieren. Dylan hat in „With God on Our Side“ die prekäre Vergangenheit der Vereinigten Staaten beschrieben, er hat in den Sechzigern die (Sub-) Kultur mitgeprägt und in seinem Spätwerk den Untergang des amerikanischen Jahrhunderts in musikalische Formen gegossen. Sein Spätwerk ist also ein bedeutsames Dokument der amerikanischen, ja der Weltkultur.
Greil Marcus ist inzwischen selbst Teil dieser Geschichte. Mit seinen Rezensionen, Glossen, Essays, Vorträgen hat er Dylans Werk beeinflusst. Verdientermaßen findet er Erwähnung in dessen autobiografischen Chronicles. Sein kulturwissenschaftliches Herangehen hat Barrieren des Rock-Journalismus eingerissen. Dass Marcus in seiner Kritikerkarriere kuriose Fehlurteile unterlaufen sind, macht nichts. Hierzulande gibt es vielleicht bessere Musikwissenschaftler als ihn, aber mit Theweleit nur einen Dylanologen, der ihm annähernd in puncto intelligenter narrativer Vitalität das Wasser reichen kann.
Über Bob Dylan. Schriften 1968 – 2010 Greil Marcus, Fritz Schneider (Übers.). Edel Books 2013, 640 S., 29,95 €
Rüdiger Dannemann ist Philosoph (Vorsitzender der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft) und schreibt im Freitag ausschließlich über Bob Dylan
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