Die Zukunft hat eine neue Adresse: Otto-Braun-Straße 70 – 72, am Alexanderplatz. Hier steht das „Haus der Statistik“. Im Moment aber noch leer – bis auf einige Räume im Erdgeschoss. In einem bisher einzigartigen Verfahren, nämlich mit maximaler Bürgerbeteiligung, wurde ein vorläufiger Bebauungsplan entwickelt, der im Februar dieses Jahres vorgestellt wurde. 300 zur Hälfte soziale und zur anderen Hälfte bezahlbare Wohnungen sollen hier entstehen. Das neue Rathaus Mitte. Das Finanzamt soll einziehen und etwas Fläche soll noch für die Künstler übrig bleiben, deren Initiative dieses Projekt überhaupt erst möglich machte. Das neue Rathaus soll auch kein normales Rathaus sein, sondern das „Rathaus der Zukunft“. Wegen der Umwelt wird es keine Parkplätze geben, dafür aber Fahrradstellplätze und einen Ort für Fahrgemeinschaften. Pakete sollen im eigenen Paketshop angeliefert werden, damit kein Lieferwagen durch das neue Quartier fahren möge. Im Innenhof sollen grüne „Stadtzimmer“ entstehen, Orte der Begegnung für die Stadtgesellschaft. Die Dächer sollen begehbar sein und die Fassaden begrünt. Wo andere also einfach Wohnungen und Behörden errichten, soll hier alles anders gemacht werden. Daher auch der Schriftzug am Gebäude: „Allesandersplatz“. All das wurde partizipativ entwickelt, das gab es in der Dimension noch nicht.
Der Bezirk Mitte baut sich also ein eigenes Rathaus, denn für das alte Gebäude an der Karl-Marx-Allee läuft 2028 der Mietvertrag aus. Schon jetzt hat sich, nachdem das Gebäude 2018 für 87,4 Millionen Euro an den Hamburger Immobilienfonds Union Invest verkauft wurde, die Miete um über 50 Prozent erhöht. Warum hat der Bezirk nicht hier zugeschlagen? 80 Millionen für einen funktionierenden Neubau in Bestlage stehen dem Kaufpreis von circa 70 Millionen für das „Haus der Statistik“ gegenüber, das eine Ruine ist. 125 Millionen Euro kommen für Sanierung und Errichtung der Neubauten im Innenhof hinzu. Für die Utopie wurden also etwa 200 Millionen Euro von staatlichen Geldern veranschlagt.
Aber wer fragt schon nach den Kosten, wenn es um die Zukunft und das bessere Leben geht? Genau gegen diese ewigen Kosten-Nutzen-Rechnungen, die Wirtschaftlichkeit, die marktwirtschaftliche Kälte, den Shoppingwahn, die Gentrifizierung, wendet sich das ganze Projekt ja.
Zwischen 1968 und 1970, als die Otto- Braun-Straße noch Hans-Beimler-Straße hieß, wurde das Gebäude in Stahlbetonskelettbauweise errichtet. Zu DDR-Zeiten befand sich hier die staatliche Zentralverwaltung für Statistik. Nach der Wiedervereinigung nutzten Behörden das Gebäude, seit 2008 steht es leer. Abgerissen sollte es werden, private Investoren sollten hier ein Hochhaus errichten und sicherheitshalber wurden in der Zeit des Leerstands die Fenster entfernt, damit sich keine Obdachlosen einmieten. Die Vandalen und die Obdachlosen kamen trotzdem. Das Haus wurde ausgeweidet und zerstört. Heizkörper und Kabel geklaut, Türen eingetreten und in die Ecken gekackt. Das Haus wurde von der Tierwelt in Besitz genommen. Der Mauersegler nistet hier, Tauben zogen ein und Bienen. Am 16. September 2015 um sieben Uhr morgens brachte der Künstler Harry Sachs an der Fassade ein Plakat an, auf dem stand: „Hier entstehen für Berlin Räume für Kunst, Kultur und Soziales. Gefördert von Berlin, EU und der Bundesregierung.“
Damals setzte es dafür eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch, aber daraus entstand das Modellprojekt. Die Berliner Politik wollte nicht mehr alles verhökern, kaputtsparen, falsch machen. Sie wollte hinhören, sie brauchte ein neues Rathaus und Wohnungen und Integration und Diversität und Umweltschutz und Partizipation – und so griff sie nach der ausgestreckten Hand der Künstler, sie hörte zu und sie ließ sich ein und sie machte es richtig.
Einer der ersten Unterstützer war der damalige Bezirksbürgermeister Christian Hanke, der sich dafür einsetzte, dass das Land Berlin die Immobilie käuflich vom Bund erwarb. Am Haus der Statistik konnte man beweisen, dass man Ideale hatte. Das Gebäude gehörte dem Bund, das Grundstück aber gehörte Berlin. 2017 war es dann so weit. Berlin kaufte das Gebäude vom Bund. Anfang 2019 wurde dann der partizipativ erstellte Bebauungsplan vorgestellt. Dieser gilt als vorläufig. Man befindet sich nach wie vor in einem Prozess, es ist immer noch nicht klar, wer letztendlich was wie nutzen wird. Wer sich genauer informieren möchte, dem sei ein Besuch der Webseite angeraten.
Global denken
Im „Haus der Statistik“ stellen auf einem internationalen Kongress bis 19. September unabhängige Kollektive ihre Konzepte zur Stadt-entwicklung vor. Es geht um langfristige Perspektiven „künstlerisch-partizipativer Interventionen“. Statt Kunst im öffentlichen Raum zu zeigen, will der Kongress Debatten aufgreifen, die seit den 1970er Jahren geführt werden, „aktualisiert in Bezug auf mikropolitische Ansätze“. Mit dabei sind unter anderen: Campus in Camps, Cercle d’Art des Travailleurs de Plantation Congolaise, Chto Delat, MACAO, Nachbarschaftsakademie Prinzessinnengärten, Planbude
Die Geschichte des Projektes war bis Ende August in einer Ausstellung in den Erdgeschossräumen zur Otto- Braun-Straße hin zu sehen. Und zwar in einer großen Anzahl von dicht bedruckten Stellwänden voller schöner Worte. Integration, Diversität, Teilhabe, Soziales, Kultur, soziokulturell, Migration, Statdtgesellschaft et cetera. In all dem Textwust ist es schwierig, den Überblick zu bekommen oder gar zu behalten. Was man aber lernen konnte, war: Bei einem Projekt dieser Größenordnung und diesen hohen Kosten scheint es ohne Textwust und viele schöne Worte nicht zu gehen. Man könnte sagen, dass hier eine Anwendung künstlerischer Strategien auf Stadtpolitik stattfindet. Und zu künstlerischen Strategien gehört ja auch ganz gerne mal die Textproduktion, wie man sie aus Ausstellungsbroschüren und Katalogtexten kennt. Es ist, als wolle man das Haus mit Buchstaben füllen.
Zum Stand der Dinge. Vier Jahre nachdem Harry Sachs sein Plakat aufgehängt hat, ist das Haus immer noch eine Ruine. Allerdings gibt es jetzt den vorläufigen Bebauungsplan und eine 30-seitige Kooperationsvereinbarung zwischen dem Bezirksamt Mitte, der Wohnbau Mitte, der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, der Genossenschaft Zukunft EG und der Berliner Immobilienmanagement GmbH. Zusammengebracht hat sie alle die Initiative für das Haus der Statistik, die sich nach der Plakataktion formierte. Heute verfügt die Initiative über ein Büro und eine Webseite. Kunstkollektive befassen sich mit dem Mauersegler und den Bienen. Die Berliner Musikerin Bernadette La Hengst leitet einen Chor. Es gibt Yoga. Auf dem Hof stehen Kästen fürs Urban Gardening und ein ausgemusterter Autoscooter. Hier wird Tango getanzt und die Berlin Art Week wird hier eröffnet.
Interessierte können sich weiterhin als sogenannte Pioniernutzer für die Bespielung einzelner Räume bewerben. Im Haus gibt es allerdings keine Fenster, kein Wasser und keinen Strom. Der gute Wille zählt.
So steht das Haus der Statistik für vieles: das Engagement der Berliner Künstler, die sich und ihre Ateliers als beständig gefährdete Spezies betrachten und daher auch unter großen persönlichen Opfern gewillt sind, Räume in Ruinen zwischenzunutzen. (Für die gute Sache, für die Aufmerksamkeit und vielleicht auch für eine Handvoll Dollar irgendwann.) Es steht für diese Berliner Stadtpolitik, die ein Haus erst leer stehen lässt und dann die Ruine für viel Geld kauft und saniert und einem das Ganze auch noch als Utopie verkaufen möchte.
Ob sie die Umsetzung und den Zeitplan für realistisch hält, frage ich Andrea Hofmann, Vorstandsmitglied der ZuKunft EG und damit eine der Beteiligten der Koop5. Im Moment sei „sehr viel positive Energie“ vorhanden, antwortet sie, und es komme „sehr darauf an, diesen Prozess nicht zu stören“.
Beilage
Dieser Beitrag ist Teil des Berlin Art Week Spezials – einer Kooperation des Freitag mit der Berlin Art Week
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