Auf Guerillaterrain

Kriegswaffe Die Journalistin Giuliana Sgrena erzählt nicht nur über ihre Entführung im Irak

Keine Entführung hat die internationale Öffentlichkeit mehr verwirrt als die der Italienerin Giuliana Sgrena. Sie hatte für die linke Zeitung Il Manifesto schon viele Jahre in mehreren islamischen Krisengebieten recherchiert, darunter auch im Irak. Wie konnte das einer Frau passieren, die die Besetzung des Irak stets als verhängnisvollen Fehler darstellte? Diesmal hatte sie sich vorgenommen, Interviews mit Flüchtlingen aus Falludscha zu machen, nachdem die Stadt von Kämpfen zwischen amerikanischen Truppen und sogenannten "Aufständischen" in Schutt und Asche gelegt war. Bislang gab es nur Berichte von Journalisten, die bei den Koalitionstruppen akkreditiert waren, die aber einer strengen Zensur unterstanden und sich sogar beim Ausheben von Schützengräben beteiligen mussten. Nachdem Sgrena in einem Flüchtlingslager mit großer Mühe einige Menschen interviewen konnte - die meisten standen ihr ungewohnt feindlich gegenüber - wurde sie aus dem Auto gerissen, mit dem sie zurückkehren wollte.

Die Todesangst, die sie wochenlang ertragen musste, war dieselbe, die andere Geiseln durchlebt haben. Aber ihre langjährige Kenntnis des Terrains ermöglichten es ihr, nach der Freilassung nicht nur einen akribischen Bericht ihrer Leidenserfahrung niederzuschreiben, sondern auch besonders tiefe Einblicke in das Kriegsgeschehen und seine Perspektiven zu geben.

So unerträglich die Ungewissheit und der wochenlange Aufenthalt in einem fensterlosen und wegen der häufigen Stromsperren auch meist völlig dunklem Raum gewesen ist, misshandelt oder entwürdigt wurde Giuliana Sgrena nicht. Ihre Bewacher respektierten "sogar einige in den internationalen Konventionen enthaltene ›Regeln‹ aus der Zeit, als man noch nicht vorgesehen hatte, dass man Gefangene auch mittels Entführung machen könnte. Konventionen, die von den Amerikanern nicht eingehalten werden, weil in den Präventivkriegen den Gefangenenlagern - in Guantanamo wie in Abu Ghraib - nicht einmal mehr der Status der ›Kriegsgefangenen‹ zugestanden wird." Ihre Lage als Gefangene nimmt sie trotzdem nicht passiv hin. "Dadurch bleibe ich kämpferisch und bewahre meinen Entführern gegenüber eine Ebene von Konflikt und Konfrontation, in der ich mich weniger ohnmächtig fühle." Wenige Zeilen später heißt es dann aber doch: "Ich fühle mich als Gefangene und Opfer eines Krieges, gegen den ich mich wie Millionen anderer Menschen aufgelehnt habe. Vergebens. Jetzt fühle ich mich doppelt besiegt." Als überzeugte Pazifistin ist sie selbst zu einer Kriegswaffe geworden.

Welcher Gruppe ihre Entführer genau angehörten, kann sie nicht sagen. Sie hatten sich zunächst mit schiitischen Namen vorgestellt, eine Tarnung, die sie nicht lange durchhielten, da sie Witze über die Schiiten machten. Sie waren gläubig, aber keine Fundamentalisten. Dank geschickter Verhandlungsstrategie der italienischen Geheimdienste und der beispiellosen Mobilisierung der italienischen Öffentlichkeit - letzteres war vielleicht das eigentliche Ziel der Entführung - wurde schließlich Sgrenas Freilassung ermöglicht. Ihre Entführer sagten ihr zum Abschied, dass sie bei einer Straßenkontrolle der Amerikaner oder der offiziellen irakischen Armee nicht erkannt werden dürfe. Angeblich wollten die Amerikaner nicht, dass sie lebend das Land verließe. Da man ihr aber keinen wahabitischen Schleier zur Verfügung stellte, sondern nur eine Sonnenbrille aufsetzte, hinter deren Gläser Watte gestopft wurde, nahm sie diese Warnung nicht sehr ernst. Das tat auch nicht der Geheimdienstler Nicola Calipari, in dessen Auto sie wenig später wechselte. Und doch passierte das Unfassbare: wenige Meter vor dem Flugplatz wurde der Wagen von amerikanischen Wachen unter schweren Beschuss genommen. Calipari, der sich schützend über Sgrena wirft, verblutet. Sie selbst erleidet eine Schulterverletzung.

Giuliana Sgrena warnt alle Westler, den Irak noch zu betreten. Weder die Position des Heimatlandes zum Krieg noch die eigene schützt ausländische Zivilisten vor dem Schlimmsten. Sie betont aber, dass auch die Koalitionstruppen die Zivilisten keineswegs verschonen, offiziell verbreitet werden nur die Zahlen getöteter Kämpfer. Viele Frauen und Kinder sterben durch den Einsatz der berüchtigten Streubomben, die in "verdächtige" Gebiete geschossen werden, bevor man sie durchkämmt. Während der Razzien, in den nach Kämpfern gesucht wird - misshandeln und töten entnervte Soldaten immer wieder Unschuldige. Und wenn sich Zivilbevölkerung in Flüchtlingslagern konzentriert, werden alle Männer systematisch mit brutalsten Methoden verhört und ihre Identität mit genetischen Codes registriert und gegebenenfalls verglichen.

Militärisch sind die Koalitionstruppen nicht in der Lage, eine zerstörte Stadt wie Falludscha dauerhaft zu kontrollieren. Kaum hatten sie ihre Aktionen beendet, wurde der Ort unter die verschiedenen, oft auch untereinander verfeindeten Widerstandgruppen aufgeteilt, die ihn im übrigen nie wirklich aufgegeben hatten. Große Teile des Iraks machen somit den Eindruck eines typischen Guerillaterrains, in dem der Zivilbevölkerung eigentlich keine Wahl bleibt, als die Widerständler zu unterstützen, unter deren Kontrolle sie mehr oder weniger zufällig gerät. Die Koalitionstruppen kommen und gehen - die bewaffneten Gruppen unterschiedlichster Couleur aber bleiben und zögern ihrerseits nicht, jeden umzubringen, der sich an der "Verteidigung" nicht in irgendeiner Form beteiligt.

Giulina Sgrena behauptet, dass die Iraker auf diese - freilich schreckliche - Weise etwas verteidigen, was sich als dauerhafter als das eigene Leben erweist: die Würde. Tatsächlich sind die Leute in eine ähnliche Lage geraten wie die von Hitler überfallenen Sowjetbürger, die ihr von Stalin aufgezwungenes System verteidigten, auch wenn es ihnen persönlich nicht gefiel. Wenn ein Eindringling die Lage der Bevölkerung nicht schnell und überzeugend verbessert, kommen solche uralten Formen von Widerstand zum Tragen. Man muss sie nicht glorifizieren, um sie als Realität anzuerkennen. Die Strategen des Pentagon haben diese Mechanismen noch nie ernst genommen, sondern verließen sich in jedem neuen Krieg auf die Kraft technischer Überlegenheit und selbstkonstruierter Mythen.

Paradoxerweise sind die Motive, die junge irakische Männer dazu bringen, sich von der neuen offiziellen Armee rekrutieren zu lassen, denen der Widerständler ähnlicher, als es auf den ersten Blick scheint. Aufbau und Stärkung einer solchen Armee gelten als Voraussetzung für den Abzug der Amerikaner. Aber diese neue Armee besteht - laut Sgrena - zu großen Teilen aus Geisterbataillonen. Nominell müsste sie 150.000 Mann umfassen, realiter sind es höchstens 40.000. Es ist gefährlich, sich rekrutieren zu lassen und viele der Soldaten kehren - nachdem sie eine Ausbildung absolviert haben - "nach Hause" zurück, während ihre Offiziere den Abgang nicht melden, sondern ihren Sold einkassieren.

Die Ausrüstung der neuen Armee ist jämmerlich: sie besitzt Hubschrauber, die 25 Jahre alt sind und vorwiegend alte albanische Maschinengewehre. Nicht nur die ehemaligen sunnitischen Offiziere, sondern Sunniten allgemein sind von der neuen Armee ausgeschlossen - ein wenig bekannter Fakt, der auf die längst beschlossene Teilung des Irak zielt. Der Krieg der großen Blöcke der Kurden und Schiiten gegen die Sunniten und umgekehrt, ist kein bedauerlicher "Kollateralschaden", sondern fest einkalkuliert. Darauf deutet auch die Reichweite der Telefonnetze hin, die das Land derzeit versorgen. "Der Norden wurde einer türkisch-irakischen, das Zentrum einer ägyptisch-irakischen, der Süden einer kuwaitisch-irakischen Telefongesellschaft zugeteilt. Und diese drei Netze sind untereinander nicht verbunden: Von Bagdad aus kann man mit einem Iraqna-Handy (was "unser Irak-Handy" heißt - S. K.) nach Italien telefonieren, nicht aber nach Basra oder Suleimania." Eine ähnliche Aufteilung der Telefonnetze war - so Sgrena - eines der ersten Anzeichen für die beabsichtigte Teilung Jugoslawiens.

Giuliana Sgrenas Buch widerspricht noch zahlreichen weiteren westlichen Mythen über Lage und Perspektive des Irak. Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb es außerhalb Italiens keine gebührende mediale Aufmerksamkeit erhielt.

Giuliana Sgrena: Friendly Fire. Als Geisel zwischen den Fronten. Ullstein. Aus dem Italienischen von Julia Sailer und Brigitte Lindecke. Berlin 2006, 205 S., 16 EUR, Ullstein-Tb. 7,95 EUR



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