Ich bin der Ansicht, wenn Allah gewollt hätte, dass Frauen ihre Haare verhüllen, dann hätte er uns keine Haare gegeben, wenn er wollte, dass Frauen sich nur im Haus aufhalten, keine Beine, wenn er wollte, dass wir schweigen, hätten wir keine Zunge.“ Das sind weise Worte der Berliner Anwältin Seyran Ateş, die – manchmal unter Gefahr des eigenen Lebens – die Rechte muslimischer Einwanderinnen verteidigt und auch in Institutionen der Zivilgesellschaft wie der deutschen Islamkonferenz wirkt.
Nun fordert diese streitbare Frau in einem neue Buch eine „sexuelle Revolution“ im Islam, der sie ähnliche Durchschlagskraft zutraut wie der Bewegung der Achtundsechziger. Zweifelsohne ist das wünschenswert, denn die Unterdrückung und Kontrolle der Sexualität in den muslimische Gesellschaften, inclusive der muslimischen Gemeinschaften in den westlichen Ländern ist skandalös.
Nach wie vor gibt es gravierende Unterschiede in der Erziehung zwischen Jungen und Mädchen. Während die Geschlechtsorgane der Jungen von Geburt an gelobt und liebkost werden, sind die Geschlechtsorgane der Mädchen mit Geheimnistuerei und Tabus belegt. Immerhin lässt man das Mädchen aber spüren, dass sie leicht zum Ort schmutziger Handlungen werden können. Bestenfalls werden sie zum „Schatz“ erklärt, der dem Kind aber nicht gehört, sondern einem Unbekanntem, dem späteren Ehemann. Die Tabuisierung der weiblichen Sexualität ist auch deshalb so traumatisierend, weil sie schon einsetzt, ehe überhaupt eine Ahnung existiert, was genau da eigentlich schmutzig sein soll. So durfte die kleine Seyran kein Eis und auch keine Banane auf der Straße essen, „weil das als Anreiz für das andere Geschlecht“ deutbar war. Und während heranwachsende Jungen flirten und sexuelle Erfahrungen sammeln dürfen, wird viel unternommen, dasselbe beim weiblichen Kind zu verhindern, angefangen von der Verhüllung der Haare bis zum Verbot der Klassenfahrten, die manche muslimische Einwanderer als „Orgie in Begleitung des Lehrers“ erscheint.
Die Widersprüche, in denen junge Musliminnen aufwachsen, finden ihren Gipfel darin, dass. trotzdem ihnen jede sexuelle Erfahrung verwehrt wird, von jeder Braut erwartet wird, den jungen Ehemann sexuell zu befriedigen, wenn sie dabei auch lebenslang eine gewisse Zurückhaltung wahren muss. Natürlich kann dieser Drahtseilakt nicht gelingen.
Ateş hat wohl recht, dass die meisten Musliminnen in der Ehe keine sexuelle Befriedigung erlangen. Das trifft auch für einen großen Teil der Männer zu – eine im Grunde unhaltbare Situation. Sie hat auch recht, wenn sie die Unentschiedenheit beklagt, mit der die europäischen Einwanderungsgesellschaften auf diese Situation reagieren. Sie hat auch recht mit der Behauptung, dass ein Eifersuchtsmord in einer europäischen Paarbeziehung nicht mit einem Ehrenmord zu vergleichen ist, der von der Herkunftsgruppe gebilligt und sogar verlangt wird.
Und wenn selbst die Azhar-Universität in Kairo verkündet hat, dass sich Musliminnen auch in puncto Verschleierung nach den Gesetzen ihrer Einwanderungsgesellschaften richten sollten, gibt es keinen Grund, weshalb europäische Gerichte einer muslimischen Familie das Recht zugestehen müssen, ihre Töchter zu verschleiern oder sie vom Unterricht über sexuelle Aufklärung, vom Sportunterricht und von Klassenfahrten fernzuhalten.
Verliebte Musliminnen
Zwar sprechen hierzulande immer seltener Gerichte Urteile aus, die einem missverstandenen Multikulturalismus entspringen. Aus den Gehirnen von Lehrern und Rektoren ist er jedoch noch nicht verschwunden, weshalb in vielen Schulen solchen Wünschen muslimischer Eltern doch oft entsprochen wird. Wegen solcher Unentschiedenheit erhält Ateş Briefe von Mädchen, die unsicher sind, ob Verliebtsein für junge Musliminnen erlaubt sei.
Wieso der Gewaltpegel zwischen den Geschlechtern, auch unter den muslimischen Einwanderern der zweiten und dritten Generation überdurchschnittlich hoch bleibt, ist auch eine Frage an die Gesellschaften hierzulande: Unsere Schulen scheinen wenig darauf Einfluss zu haben. Dabei ist klar, dass die Schule bislang der einzige gesellschaftliche Bereich ist, in dem junge Muslime – theoretisch sogar gleichberechtigt – tagtäglich kulturelle Erfahrungen in unserer Gesellschaft machen, in der sie – trotz allem – künftig leben werden.
Ist Ateş Beschreibung der sexuellen Situation im Islam durchaus zuzustimmen, so erscheint ihre Beurteilung der Rolle, die sie im Konflikt mit dem Westen hat, ziemlich übertrieben. Zwar wird der Kampf gegen den Westen von Islamisten tatsächlich auch unter dem Vorwand geführt, dass er unmoralisch sei. Aber dass die sexuelle Fesselung der Individuen den „größten Konflikt zwischen Christen und Juden einerseits und Muslimen andererseits“ darstelle, ist nicht richtig. Und stimmt es, dass eine repressive Sexualmoral den Aufbau von Demokratie verhindert? Wäre es so, hätte sie sich weder in den USA noch in der Bundesrepublik Adenauers entwickeln können.
Um „in einer globalen und offenen Weltgesellschaft als attraktive Religion Ansehen und Respekt zu erlangen“ braucht der Islam befreite Sexualität ebenso wenig wie der Papst. Mit solchen Behauptungen reflektiert Ateş’ Buch die kurzatmigen Ziele der Islamkonferenz, die die tieferen Ursachen des Islamproblems weder global noch im eigenen Land angeht. Die in den sechziger Jahren beginnende sexuelle Emanzipation erscheint hier als Teil der westlichen Leitkultur, der sich die Muslime voraussetzungslos anschließen sollen.
So neu wie Ateş und die Verlagswerbung es darstellen, ist ihre Diagnose der Sexualität der Muslime nicht. Hierzulande und auch in vielen islamischen Ländern liegen solche Analysen seit langem vor – wie sie auch im Westen vorgelegen haben, ehe sich sexuelle Emanzipation für relevante Segmente der Bevölkerung zu vollziehen begann.
Die Forderung nach sexueller Revolution ist unter Muslimen nicht nur unter literarischen Avantgardistinnen verbreitet. Die Rezensentin erinnert sich, wie sie schon vor dreißig Jahren von einer zwergwüchsigen Studentin ins Audimax der Universität Algier gebrüllt wurde, während einer Veranstaltung zur Frage des geistigen Erbes der Partisaninnen des Unabhängigkeitskrieges. Zu dieser Zeit begannen die Islamisten allerdings auch, Liebespaare zu verprügeln und Studentinnen mit Salzsäure zu besprühen, wenn sie Sommerkleider trugen. Innerhalb von zwei, drei Jahren legten zwei Drittel der Studentinnen dann den Schleier an.
Saudische Restauration
Seyran Ateş, die in ihrem Buch nicht zwischen Islam und Islamismus unterscheidet, geht auch nicht darauf ein, dass es die noch heute mit dem Westen verbündete islamische Führungsmacht Saudi Arabien ist, die – neben dem Iran – innerhalb der islamischen Welt dafür sorgte, dass die in den fünfziger und sechziger Jahren bis in die Volksschichten hinein spürbaren emanzipatorischen Entwicklungskeime einer hinterwäldlerischen Restauration Platz machen mussten.
Dazu ist der Hinweis wichtig, dass Familienväter, die die islamische Lebensweise ihrer Familie garantieren, von der Moschee eine kleine materielle Unterstützung bekommen können, die zumeist aus Finanzquellen der arabischen Halbinsel stammt und für viele Muslime weltweit das einzige System von Sozialhilfe darstellt.
In bestimmten Fällen, zum Beispiel wenn Studentinnen das Kopftuch anlegen, können sie die Unterstützung auch selbst in Empfang nehmen. In den frühen neunziger Jahren hat der Rezensentin eine Muslimin aus Bosnien anvertraut, dass das System auch hier existiert.
Wenn es ab Mitte der sechziger Jahre zu einem Schub sexueller Emanzipation in Deutschland kam, so setzte er nicht zufällig bei Gruppen ein, in denen auch die weibliche Berufstätigkeit und materielle Unabhängigkeit selbstverständlich zu werden begann.
Nachhaltig war diese Entwicklung nur, weil sich Frauenarbeit seither immer mehr verallgemeinerte. Solange Migrantenmilieus sich fast nur in den engen ökonomischen Kreisläufen der eigenen Gruppe reproduzieren können, dürften die Berufstätigkeit der Frauen und kultureller Wandel eher die Ausnahme bleiben.
Der Islam braucht eine sexuelle Revolution. Eine Streitschrift. . Ullstein, Berlin 2009, 216 S., 19,90 Seyran Ateş
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