Anfang der neunziger Jahre hielt ich an deutschen Universitäten mehrfach ein Seminar Engagement in Kunst und Kultur ab. Das studentische Interesse für Kunst- und Kulturtechniken schlug in Unverständnis um, wenn ich behauptete, dass unter "Kulturpolitik" nicht nur die Einflussnahme totalitärer Staaten auf die Kultur zu verstehen sei, dass es vielmehr auch im Westen eine "Kulturpolitik" gäbe. Diese enthalte sich im Prinzip zwar der direkten Einflussnahme, könne aber doch analysiert werden entlang der Geldströme, die von staatlicher und privater Seite in die Kultur flössen. "Echte Kunst ist immer frei und unabhängig und entsteht auch ohne Geld", war eine häufig geäußerte Meinung. Oder: "Was gut ist, setzt sich irgendwann immer durch und bringt dann auch Geld, spätestens den Erben."
Bei der Kulturfinanzierung geht es aber nicht nur um Lebens- und Arbeitsbedingungen von Künstlern, sondern auch um die Strukturen und Räume, in denen sie mit möglichst viel Publikum zusammentreffen. Von Dichte und Qualität der soziokulturellen Strukturen hängt ab, ob auch die breiten Schichten ein vielfältiges und anspruchsvolles Kulturangebot wahrnehmen und sich selbst auch aktiv in Kultur- und Kunsttechniken trainieren können. Im 20. Jahrhundert wurde nicht nur in sozialistischen, sondern auch in westlich-demokratischen Gesellschaften das Elitäre überwunden, das ehemals sowohl Kunstmachern als auch Kunstkonsumenten anhaftete. Wenn die geldgebende öffentliche Hand die Träger der soziokulturellen Strukturen Autonomie gewährt, kann sich sowohl die gemeinschaftsfördernde als auch die kritische Funktion von Kultur entfalten. Man muss sie als kollektive Spielwiese utopischen Hoffens und Denkens verstehen, als unverzichtbare materielle Basis einer demokratischen Zivilgesellschaft.
Die Blindheit meiner Studenten für die Bedeutung der soziokulturellen Strukturen erklärte sich daraus, dass damals in Westeuropa imposante öffentlich finanzierte Bibliotheken mit Kulturhauscharakter und kostenlose, beziehungsweise preiswerte Jugendclubs aller Art noch zur Selbstverständlichkeit gehörten. Diese Subventionskultur unterschied sich von der Kulturpolitik des Ostens dadurch, dass sie die Autonomie der Träger garantierte. Damit stellt sie einen wichtigen Erfahrungswert für die demokratische Zukunft dar. Jedoch begann sich die öffentliche Hand in den neunziger Jahren immer dreister zurückzuziehen. Privates Kultursponsoring wurde als neuer Hoffnungsträger ins Gespräch gebracht.
Immerhin kam in diesen Seminaren auch die aus dem berühmten Aufsatz von Horkheimer und Adorno über die Kulturindustrie abgeleitete Extremauffassung vor, dass die damals in der Kultur schon dominierenden privatkapitalistischen Vertriebssysteme das Entstehen von alternativem Engagement immer effizienter und schließlich ganz verhinderten. Es war nicht einfach, den "Kulturapokalyptikern" unter den Studenten die Auffassung nahe zu bringen, dass wir an der philosophischen Fakultät die Kategorie des widerständigen Denkens und Phantasierens nicht als aussterbend hinstellen sollten.
Obwohl es immer noch und neuerdings sogar wieder mehr widerständige Kunst gibt, hat sich die Vision dieser Apokalyptiker hinsichtlich des Dahinschmelzens der öffentlichen Kulturförderung weitgehend realisiert. Dietger Pforte, der Vorsitzende des gerade zusammenbrechenden Kulturfonds, wies neulich darauf hin, dass in den verbleibenden öffentlichen Kulturbudgets nur ein minimaler Teil der Förderung von lebendiger Gegenwartskultur, der Hauptteil aber konservatorischen Aufgaben der Museen und Gebäudepflege dient. Zwar sollte man die verschiedenen kulturellen Sphären nicht gegeneinander ausspielen, aber man muss sich bewusst machen, dass die öffentliche Hand damit eine elitäre Klientel bevorzugt. Das geschieht auch, wenn nur über die Mittelstreichung für die Stadttheater geredet wird, während die Soziokultur ohne große Diskussionen weggespart wird. Nordrhein-Westfahlen ist gerade dabei, 50 Prozent seiner soziokulturellen Einrichtungen für Jugendliche zu schließen. Ungeachtet der Pisa-Studien wurden in meinem eigenen Moabiter Kietz die Kinderbibliotheken erheblich verkleinert, eine sogar ganz abgeschafft, obwohl sie außerordentlich gut frequentiert war. Die wenigen Jugendclubs, die noch bestehen, sind hoffnungslos unterfinanziert; ihr baulicher Zustand ist würdelos und weist sie als Anhängsel der Sozialhilfe aus: schimmlige Kulturbrosamen für die Kinder der Armen! Immer mehr Jugendliche sind auf passive und virtuelle Kulturkommunikation via Fernsehen und PC verwiesen.
Man sollte meinen, dass sich private Sponsoren wenigstens der Kinderbibliotheken annehmen könnten. Sie sind auf ihre Weise totalitär, weil sie quasi instinktmäßig keine Kulturstrukturen fördern, in denen sich unkontrollierbares Denken entwickeln könnte. Die Kunstformen, die im Allgemeinen privat gefördert werden, gehören zur aktuellen Palette der Opiate wie zum Beispiel gegenstandslose Kunst und klassische Musik sowie Pop-Musik der Sparte "Unterhaltung". Ein Medium wie die Literatur, die mit dem Grundwerkzeug der Aufklärung arbeitet - nämlich mit Sinn heischenden Wortkombinationen - darf so gut wie nie auf privates Sponsoring hoffen.
Buchverlage und Presse, deren potentielle Vielfalt einstmals als Garant einer robusten Gegenöffentlichkeit galt, wirken durch die Medienkonzentration immer gleichgeschalteter. Vor und während des jetzigen Irak-Krieges zeigte sich deutlich, dass sie keineswegs das wirkliche Spektrum der öffentlichen Meinung zum Ausdruck bringen, sondern die Vorstellungen mächtiger Privatkonzerne. Wenn Bertelsmann seine Hauptgeschäfte in den USA tätigt, sollte das nicht über die Tatsache täuschen, dass amerikanische Medien- und Kulturkonzerne dabei sind, den europäischen Kulturmarkt zu erobern. Nach Waffen ist Kultur das zweitwichtigste Exportprodukt der USA. Um sich noch bessere internationale Zirkulationsbedingungen zu verschaffen, verlangen sie ein GATS-Abkommen, das weltweit öffentliche Kultursubventionen untersagen soll.
Der dramatische Abbau kultureller Kommunikation der potentiellen Bürgergesellschaft wird ergänzt durch die opportunistische Anpassung der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten an das Niveau der privaten Sender. Wenn in der Zeit bereits über die drohende Abschaffung der Geisteswissenschaften an den Universitäten diskutiert wird, scheint die Selbstaufgabe der Zivilisation denkbar geworden.
In studentischen Kreisen kommt der Begriff der "Kulturpolitik" nun jedoch öfter vor, um die gegenwärtigen Kulturmissstände zu analysieren und ihre Behebung zu denken und zu fordern. Das beschäftigt nicht nur Kulturattac, sondern auch geisteswissenschaftliche Netzwerke. Dazu gehören neben Künstlern, für die eine gesellschaftlich engagierte Kunst erstrebenswert ist erstaunlich viele junge Leute, die sich rein kulturpolitisch engagieren, das heißt um den öffentlichen Sektor der Kultur kämpfen.
Wenn man sich auch keinesfalls wieder eine Parteikunst oder auch eine Parteipresse wünscht, wäre es doch erstrebenswert, dass kulturpolitische Fragen in Parteien und Parlamenten diskutiert werden. Kulturpolitischen Instinkt weist eher die Rechte auf. Sie weiß einfach, dass sie, um regierungsfähig zu sein, auch ihren Kritikern kulturellen Raum geben muss. Ich bin voller Hochachtung gegenüber der Christdemokratin Christa Thoben, die vor Christoph Stölzl das Amt der Kultursenatorin in Berlin aufgetragen bekam, es nach Prüfung der Kassenlage aber ablehnte.
Sozialdemokraten hatten immer schon wenig Bewusstsein für die Bedeutung der Kultur, die ihrer Meinung nach mit der Gesellschaft mechanisch wächst oder schrumpft. So fällt es ihr nicht schwer, eine ihrer ehrenvollsten eigenen Errungenschaften wegzusparen: die Volkshochschulen. Aus Sicht der SPD gibt es im kulturellen Wildwuchs immer irgend etwas Brauchbares, was man für gutes Geld zu Wahlkämpfen einkaufen kann. Die Sozialdemokratisierung der PDS zeigt sich deutlich in der Aufgabe der kommunistischen Überzeugung, dass es ohne eine energisch geförderte Alternativkultur keine neue Welt geben wird. Sie dürfte sich nicht in Demonstrationsfolklore und hin und wieder etwas engagierter Musik erschöpfen, sondern muss allen künstlerischen und wissenschaftlichen Diskursen, die die bürgerliche Kulturhegemonie hervorbringt, Kritisches und Neues entgegensetzen. Statt dessen versteht die PDS wie die SPD unter Kultur nur noch ein bisschen Budenzauber beim Wahlkampf. Je unpolitischer er ist, um so mehr zeigt man, dass man "in der Demokratie angekommen" ist. Dafür greift man auch mal besonders tief in die Tasche. André Brie orderte für die Eröffnung des Europawahlkampfs in Dresden ein Kieler Ballett mit der Pink Floyd-Doublette über den Mauerfall, für das einschließlich der Technikkosten über 120.000 Euro zu zahlen gewesen wären, hätten die Künstler nicht kurzfristig abgesagt. Ungeklärt ist, welche der Kosten trotzdem anfallen.
Nur 1.000, schließlich 5.000 Euro war der PDS-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Kulturkonferenz mit dem Titel Gegenöffentlichkeit wert, die die "Künstler gegen den Krieg" konzipiert hatten, und zu der Konstantin Wecker, Hermann Scheer, Peter Sodann sowie Vertreter der neuen kulturpolitischen Bewegungen wie Kulturattac für Podien und Workshops zugesagt hatten. Obwohl vorhersehbar war, dass auf dieser Konferenz, die Ende April stattfand, auch die Kahlschläge von Kultursenator Flierl zur Sprache kommen würden, übernahm schließlich der Kultur- und Bildungsverein der Berliner PDS, "Helle Panke" Hauptkosten und Organisation. Damit die gegenwärtig von den verschiedensten Gruppierungen hervorgebrachten kulturpolitischen Aktivisten in Kontakt kommen und sich vernetzen können, dürften solche Podien einer künftigen Gegenkultur keine Eintagsfliegen bleiben.
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