Als ich 2001 nach New York reiste und meine dort lebende Cousine fragte, welche Museen außer MoMA und Metropolitan man besuchen müsste, fuhr sie erregt auf und sagte: "Also das MoMA kannst Du ruhig weglassen. Das ist doch nur Geschäft. Wenn Du etwas über uns und die wirkliche amerikanische Malerei erfahren willst, geh lieber gleich ins Whitney-Museum! Das ist frei von Klekserei!"
In den USA scheint sich die in Europa so deutlich spürbare Trendwende von der abstrakten zur abbildenden Malerei schon länger zu vollziehen. Obwohl meine Cousine eine demokratisch gesinnte Amerikanerin ist, argumentierte sie erstaunlicherweise genau so wie DDR-Kulturfunktionäre, denen gegenüber ich einst das Daseinsrecht abstrakter und gegenstandsloser Malerei verteidigt hatte.
Ich betrat nun das Whitney-Museum of American Art vor allem deshalb, um endlich ein paar Originale von Edward Hopper (1882-1967) zu sehen. In Europa kannte man diese amerikanische Ikone der gegenständlichen Malerei nur über Reproduktionen. Schon im Eingangsbereich des Whitney-Museums verblüfft der programmatische Begrüßungstext, in dem es heißt, dass das Haus sich ausdrücklich das Ziel stellt, amerikanische Maler auszustellen, die bewusst am Mainstream und meistens auch am Geschäft vorbei gemalt haben. Auch Hopper hatte 1952 zu einer Gruppe von Malern gehört, die sich mit einem Manifest und der Gründung der Zeitschrift Realism gegen die einseitige Förderung der abstrakten Kunstrichtung ausgesprochen hatte. Heute weiß man, dass hinter dieser Förderung sogar Gelder des CIA standen, dass damit tatsächlich Weltkulturpolitik betrieben wurde.
Im Erdgeschoss des Whitney-Museums gab es eine Sonderschau des Naiven Jacob Lawrence, der als Autodidakt die Stationen des schwarzen Emanzipationskampfes malerisch begleitet hatte. Ich kannte ihn aus dem Katalog The other America, war aber nun erstaunt, wie viel andächtiges Publikums er anzog, darunter mindestens zwei Drittel Weiße. In den oberen Stockwerken zeigte das Museum Teile des eigenen Bestands. Vor allem bei Gemälden aus den zwanziger und dreißiger Jahren, die malerisch in der Nähe der Neuen Sachlichkeit stehen, war deutlich Gesellschaftskritik zu erkennen: John Steuart Currys bissig-ironische Darstellung einer bigotten Taufgesellschaft unterm freien Himmel von Kansas, Paul Cadmus´ betrunken auf den Asphalt gesunkene Seeleute, umsorgt von weniger betrunkenen Huren. Von George Tooker stammte ein beklemmendes Bild einsamer, von der Arbeit heimkehrender Männer und Frauen im Labyrinth des Subway. Und schließlich und endlich mein Lieblingsbild von Edward Hopper: Early Sunday Morning, das man freilich weder als neusachlich noch als vordergründig gesellschaftskritisch bezeichnen kann.
Das 1930 entstandene Gemälde stellt den Blick auf die einstöckige Häuserfront einer bis heute für ganz Nordamerika typischen Ladenstraße dar, noch unbevölkert, schlafend. Man benötigt eine Weile, um herauszufinden, weshalb das Bild nicht langweilig ist, sondern den Betrachter in Bann schlägt. Auf dem Stockwerk liegt beunruhigend schräg einfallendes Morgenlicht. Ein buntes Werbesäulchen und eine noch kleinere Feuerwehrsäule werfen parallel zur Kante des Bürgersteigs irreal lange Schatten. Zunächst sind es allein solche Spiele mit unrealistischem Licht und Schatten, keineswegs die eher minimalistischen, unspektakulären Inhalte, durch die Hopper eine magisch-irritierende Stimmung hervorruft.
Gierig betrachtete ich die Oberfläche des Originals, um zu sehen, was man auf Reproduktionen nie sieht: den "Strich", die zweite, von den großen Malern gegen die Linien des Dargestellten geschaffene Oberfläche des Gemäldes. Zwar fehlte Hopper nicht der Mut zur vieltönig erzeugten malerischen Oberfläche, eine besonders aufregende Strichsetzung konnte ich nicht erkennen. "Hopper ist einfach ein schlechter Maler" behauptete der Kritiker Clement Greenberg. "Aber wenn er ein besserer Maler wäre, dann wäre er vermutlich kein so großer Künstler." Die letzte Behauptung scheint mir zutreffender als die erste. Hinter der scheinbaren Banalität von Hoppers Sujets verbirgt sich ein Hang zur Hintergründigkeit und Verfremdung, die in der amerikanischen Kultur selten sind.
Beeindruckend ist seine hartnäckige Weigerung, an der Entwicklung der Moderne zu immer größerer Abstraktion teilzunehmen. Sie ist um so erstaunlicher, weil sich der junge Hopper, der zunächst als Werbezeichner und Illustrator in New York gearbeitet hatte, zwischen 1906 und 1910 dreimal längere Zeit in Europa, besonders in Paris aufhielt. Doch statt sich dem dort gerade lautstark von sich reden machenden Kubismus anzuschließen, interessierte er sich mehr für die älteren europäischen Maler, vielleicht gerade für die deutschen. Er malte in Paris Stadtansichten und Stadtdetails - zum Beispiel Treppen an Brücken oder in Mietshäusern, die von Slevogt oder Liebermann stammen könnten. Vom Kubismus übernahm er offenbar nur die überscharfe Kontrastierung von Licht und Schatten, ohne aber die Dinge zu zerlegen oder gar aufzuklappen. In Paris begann er auch mit spätimpressionistischen weiblichen Akten, die manchmal eine pikante Note haben. Auf diese pikante Note verzichtet er jedoch mit der Zeit mehr und mehr. Die dargestellten Frauen sind immer weniger Objekte eines voyeuristischen männlichen Blicks, sondern präsentieren sich als selbstbewusste, emanzipierte Subjekte. In diesem Frauenbild liegt Hoppers Modernität, sein eigentliches Geheimnis, das manchem Betrachter auch heute noch einen Kälteschauer über den Rücken jagt.
Schon Anfang der zwanziger Jahre findet er sein immer wieder aufgenommenes Hauptsujet: eine luft- und sonnenhungrige Frau vor geöffnetem Fenster. Häufig, aber nicht immer, ist sie nackt. Ob angezogen oder nackt, diese Frauen scheinen sich in der geschützten Welt des Hauses nicht wohl zu fühlen, streben hinaus in die Stadtlandschaft oder auch in die Natur, die als Garten, Wiese oder Weizenfeld direkt vor der Haustür beginnen kann. Mit der Faszination für die angstfreie selbstständige Frau - sein Modell ist bald nur noch Ehefrau Josephine Nivison - war Hopper ein sensibler Beobachter der sich realiter vollziehenden Emanzipationsprozesse. In keiner Ecke seiner Malerei findet man einen Schimmer männlichen Bedauerns darüber. Wie sein Verhältnis zu Realität war, gibt seine Reaktion auf die Veröffentlichung von Hemingways Erzählung The Killers von 1927 wieder. Es habe ihn erfrischt, in einem amerikanischen Magazin auf "ein so ehrliches Stück Arbeit zu stoßen, nachdem man durch jenes Meer von verzuckertem Brei gewatet war, das den größten Teil unserer Prosa ausmacht." Hopper - ein Gegner von Kitsch und Lüge in der Kunst.
Er hatte früh Erfolg, konnte bald vom Verkauf seiner Bilder ein bequemes, alles in allem sehr amerikanisches Mittelklasseleben mit seiner Frau Jo führen. Das Paar war viel unterwegs. Da Hopper es sich zum Prinzip gemacht hatte, keine Arrangements, sondern nur Realitäten darzustellen, malte er die Welt der Bars, der Hotelrezeptionen. Während sich die Männer hier in ihrem Element zu befinden scheinen, ohne freilich zufrieden zu wirken, blicken die Frauen stets aus dem Fenster oder in eine andere geistige Welt, indem sie zum Beispiel lesen. Dadurch entsteht der Eindruck, dass sie sich auf etwas konzentrieren, was sie nicht haben, auch und gerade, weil keine unmittelbare Not zu herrschen scheint. Hoppers Bilder wirken wie unvollendete Geschichten. Die Barszene Nachtschwärmer inspirierte mehrere Regisseure, darunter Hitchcock und Wenders zu weitererzählenden Filmsequenzen.
Nachdem in der Berliner MoMA-Schaunur zwei Hoppers zu sehen waren, ist es gut, dass man sich gegenwärtig im Kölner Ludwig-Museum eine wirklich repräsentative Schau seiner bedeutendsten Werke ansehen kann. Darunter ist auch eines seiner letzten, zwei Jahre vor seinem Tod gemalten Bilder, auf dem er selbst seine Frau Jo aus dem Hintergrund einer Bühne auf die vordere Rampe zu ziehen versucht. Beide tragen Clownskostüme. Damit will Hopper auf der allegorischen Ebene ein letztes Mal sagen, dass er selbst und seine Frau ein Arrangement darstellten, nicht aber seine Bilder. Auf der realistischen Ebene zeigt er hier sein Missbehagen, dass sich Jo zeitlebens selbst in den Hintergrund gestellt hatte, obwohl sie selbst eine Malerin war. Irgendwann müssen auch Josephine Nivison-Hoppers Bilder in der Öffentlichkeit auftauchen. Man darf darauf neugierig sein.
Edward Hopper. Museum Ludwig, Köln, noch bis zum 9. Januar, Katalog 34 EUR
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