Ein Präsident als Seelsorger

ALGERIEN Abdelaziz Bouteflika hat seinem Land wieder Reputation und Selbstachtung verschafft

Auch ich konnte das Gefühl schreiender Ungerechtigkeit nicht unterdrücken, als ich am 15. September im algerischen Fernsehen die Bilder von über 50 GIA-Terroristen (*) sah, die in einem luxuriösen Feriencamp empfangen wurden, das sich kein normaler Algerier leisten kann. Sie sahen sauber und gepflegt aus, wirkten trotz ihrer langen Hemden und Bärte sportlich, modern, fröhlich. Bis auf drei von ihnen, die ein Gerichtsurteil abwarten müssen, konnten sie eine Woche später nach Hause.

Viele Familien nehmen ihre Söhne im Triumph auf, andere verstoßen sie. Manche können nicht heimkehren, weil in ihren Regionen noch Islamisten aktiv sind, die Rache nehmen würden. Obwohl sich mittlerweile Hunderte ergeben haben, kommt es immer noch zu Straßensperren falscher Polizisten, die am hellichten Tage Bürger anhalten, ausrauben und töten.

Die neuen Gnadengesetze kamen schon vor dem Referendum über die Versöhnungspolitik des Präsidenten Bouteflika vom 16. September zur Anwendung. In der Hoffnung, dass die Zeit der alptraumartigen Nächte und der kollektiven Großbegräbnisse mit der großzügigen Gnadenformel des Concorde Civile doch ein Ende nehmen werden, haben die Algerier massiv dafür gestimmt (Beteiligung: 85 Prozent, davon mit Ja 98,6 Prozent). »Das Zusammenleben mit den Heimkehrern wird nicht einfach sein«, meinen Leute, die sich keine Bodygards leisten können. »Wenn ich die Personen treffe, die beinahe meine beiden Söhne getötet hätten, werde ich einen Herzanfall bekommen!« sagt eine Frau aus Chebli bei Algier.

Abdelaziz Bouteflika hatte für sein Projekt in einem beispiellosen Marathon von mehrstündigen Reden (manchmal drei pro Tag) in allen Regionen des Landes geworben. Überall konnten sich Menschen melden und vor dem Staatschef über den schwierigen Alltag sprechen und vorschlagen, was zu verändern sei. Nachdem einmal eine Rednerliste den Unmut des Saales hervorgerufen hatte, wurde sie von Bouteflika kurzerhand annulliert, und die Leute konnten spontan reden. Das schuf Vertrauen. Die Meetings wurden von Tag zu Tag offener. Es sprachen nicht weniger Frauen als Männer, jeden Tag schärfer, jeden Tag leidenschaftlicher. Die meisten SprecherInnen aus Organisationen der Terroropfer erkannten zwar die Friedensinitiative als Chance an, beharrten aber energisch auf einer ausreichenden Versorgung der Opfer. Bouteflika kehrte in diesen Situationen den Präsidenten aller Algerier heraus - er müsse auch die Kinder der Terroristen versorgen. Im übrigen seien die Staatskassen leer, keine Gruppe dürfe hoffen, in ähnlicher Weise versorgt zu werden, wie die Familien der Kämpfer für die Unabhängigkeit von 1962. Da es in Algerien aber keineswegs einfach ist, sich selbst durch Arbeit zu versorgen, bleiben das brennende Fragen. Und doch sind sie zweitrangig gegenüber dem elementaren Wunsch, einfach nur zu überleben.

Erfolg hatte Bouteflika sogar in Tizi Ouzou, der Metropole der Kabylei, wo er vor den Präsidentschaftswahlen mit Eiern beworfen und später mit mageren fünf Prozent abgespeist worden war. Jetzt stimmten 38 Prozent der Wahlberechtigten dieser Region für sein Projekt, obwohl er in Tizi Ouzou offen erklärt hatte, das von einem Drittel der Algerier gesprochene Berberische könne höchstens zweite Nationalsprache, niemals aber Amtssprache werden.

Bouteflika stößt nicht zuletzt deshalb auf wachsenden Widerhall, weil er sich zu Reparaturen am nationalen Selbstbewusstsein entschlossen hat. Seit seiner Amtsübernahme und noch mehr, seit er auf dem im Juli abgehaltenen Gipfel der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) deren Vorsitzender wurde, avanciert Algier wieder zum Zentrum diplomatischer Treffen arabischer und afrikanischer Politiker. Altes Prestige wird belebt, das Bouteflika einmal als Außenminister eines führenden Landes der Blockfreien-Bewegung besaß. Neben Südafrika wird sich nun auch Algerien bemühen, bei internen afrikanischen Konflikten zu vermitteln. Während der Begräbnisfeier für den marokkanischen König Hassan gab Algeriens Staatsoberhaupt demonstrativ dem israelischen Premier Ehud Barak die Hand und versicherte, Algier werde die Friedensbemühungen im Nahen Osten aktiver unterstützen, als das bisher der Fall war. Und als Bouteflika in Italien - statt die übliche belanglose Rede eines geladenen Staatschefs zu halten - temperamentvoll die dortige Industrie beschuldigte, nach Algerien des öfteren Schund zu liefern, schien etwas vom alten Glanz des Antiimperialismus zurückgekehrt zu sein, wenn auch in neuer Form. Bouteflika war nie Sozialist und macht keinen Hehl daraus, dass Algerien nicht zum Wohlfahrtssystem des ehemaligen Präsidenten Boumediène zurückkehren wird. Doch hat er sich dem Westen nie kritiklos angepasst, sondern immer versucht, seinem Land als gleichberechtigtem Partner Geltung zu verschaffen.

Auch Blockaden, die europäische Länder wegen des Terrorismus über Algerien verhängt hatten, konnte Bouteflika bereits abbauen. So wird eine unerträgliche Situation im Reiseverkehr beseitigt. Wer in den vergangenen Jahren seine Familie in Europa besuchen wollte, hatte größte Probleme, ein Visum zu bekommen. Ehe man sich in nächtelangem Warten vor den Niederlassungen von Air Algérie sein Ticket erkämpft hatte, konnte das Visum schon wieder abgelaufen sein. Demnächst jedoch will nun auch die Air France ihre Flüge wieder aufnehmen.

(*) Groupe Islamique Armeé - islamistische Guerrilla

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