Es ist eigentlich ein brandaktuelles Buch über den „Islamischen Staat“ und seine Kämpfer, das Peter Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am Londoner King`s College und Leiter des International Centre for the Study of Radicalisation uns da vorlegt. Unklar ist, wieso er es über ein gutes Viertel seines Texts einleitet mit einem Schema von vier historischen Terrorismuswellen: Anarchismus, Antikolonialismus, Neuer Linker und Religiösem Fundamentalismus – worunter er sowohl christliche als auch die älteren islamistischen Terrororganisationen versteht. Der IS repräsentiere eine fünfte Welle, weil er – im Unterschied zu den früheren – erfolgreich ein eigenes Staatsgebiet samt Bürokratie schaffen konnte. Das stellt ihn aber eher in eine Reihe faschistischer Terrorismen, namentlich den italienischen und den deutschen, die ebenfalls schon vor Errichtung ihres Staates die Menschen durch öffentlich ausgeführte Gewaltakte gefügig machten. Dem wird Neumanns Schema nicht gerecht.
Islamistische Konkurrenz
Kompetent erscheint er jedoch in der Schilderung der Geschichte und der Persönlichkeiten der großen islamistischen Gruppen und der Konkurrenz, die zwischen ihnen herrscht. Sie könne zu einem auch für den Westen gefährlichen Anschlags-Wettbewerb führen: Al Qaida, die gegenüber dem IS an Strahlkraft verloren hat, dürfte über einen neuen 11. September nachdenken.
Interessant ist die Differenzierung, die Neumann zwischen IS und der syrischen Al-Nusra-Front vornimmt, die in den Medien oft noch als akzeptable Kraft im Kampf gegen Assad erscheint. Er hält jedoch die Ideologie beider Gruppen für identisch wie auch die Zielstrebigkeit, mit der sie eine Scharia-Gesellschaft ansteuern. Unterschiede liegen im taktischen Vorgehen: Die Nusra-Front erscheint weniger radikal, weil sie sich um Zusammenarbeit mit lokalen Stammesstrukturen bemüht. Sie macht ihnen noch kulturelle Zugeständnisse, während der IS sein Scharia-Programm unabhängig von den vorgefundenen Gegebenheiten durchsetzt und unverhohlen globale Ziele ansteuert. Kalif al Baghdadi wünscht sich regelrecht die militärische Konfrontation mit westlichen Bodentruppen – um sich als antiimperialistischer Helden feiern zu lassen.
Hinsichtlich der Freien Syrischen Armee zerstört Neumann jegliche Illusion: Sie ist nicht mehr existent, die meisten ihrer Kommandeure und Kämpfer sind zum IS übergelaufen.
Neumann und sein Team gewinnen ihre Erkenntnisse nicht nur aus Auswertungen umfangreicher Beobachtungen von Blogs, Facebook und anderen Selbstdarstellungen des IS im Internet, sondern auch aus direkter Feldforschung. Insbesondere hält er sich häufig im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien auf, um den Transfer der Kämpfer zu beobachten und möglichst mit ihnen in Kontakt zu kommen. Er entlarvt die fatale Rolle, die die Türkei spielt. Hier noch wird in „sicheren Häusern“ die Zuverlässigkeit der aus Europa eintreffenden jungen Männer und Frauen überprüft. Wer schließlich über die Grenze darf, muss keine Angst haben: Die türkischen Soldaten schießen nur in die Luft.
Neumann macht plausibel, dass die Kämpfer aus dem Westen dem IS besonders problematische Dienste leisten. Da sie – anders als die kampfgeschulten Veteranen z. B. aus Afghanistan, Algerien, Tschetschenien und dem Jemen – militärisch kaum sinnvoll einsetzbar sind, werden gerade sie mit den medial in Szene gesetzten schlimmsten Grausamkeiten beauftragt, die Syrer oder Iraker im eigenen Land nicht begehen wollen. Der Alltagsdienst, den westliche Djihadisten zu absolvieren haben, erschöpft sich – wenn sie nicht in den großen Schlachten als Kanonenfutter verheizt werden – vor allem im Wacheschieben. Obwohl der IS auch professionelle Filmteams beschäftigt, die Dokumentationen und Clips mit „kinematischer Qualität“ herstellen, sind Blogs und der E-Mail-Verkehr westlicher Rekruten mit in Europa verbliebenen „Brüdern und Schwestern“ ein wichtiges Propagandamittel. Wenn aus Syrien berichtet wird, dass man dort „Sklaven, Pizza und den Märtyrertod“ teilen dürfe, dann riecht das nach Abenteuer und trifft Sehnsüchte salafistischer Jugendlicher, die glauben, zu Hause keine Zukunft zu haben. Laut Neumann entstammen deutsche IS-Kämpfer meist prekären sozialen Milieus. Aus England kommen oft Studenten oder gar Akademiker mit ordentlichen Abschlüssen.
Ärzte und Architekten
Da sich der IS als strukturierter „Staat“ mit Zukunft versteht, wirbt er weltweit nicht nur Kämpfer an, sondern ausdrücklich auch ganze Familien, Fachleute jeder Art: Ärzte, Architekten, Handwerker, IT-Spezialisten, Bürofachkräfte, auch Frauen. Neumann bezweifelt jedoch die Zukunftsfähigkeit des IS-Staats, weil seine wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten schon jetzt an enge Grenzen stoßen. Der Erdöl-Vertrieb geht zurück, weil die meisten Förderanlagen bombardiert wurden. Kein Land der Welt will offizielle Handelsbeziehungen mit dem IS eingehen. Bald schon könne ihm die Kraft zur Regeneration ausgehen – was seine Gewaltbereitschaft womöglich noch steigert.
Leider stellt Neumann den Westen nur als Opferziel des IS dar. Er analysiert nicht die aktive Rolle, die der Westen, Saudi-Arabien und Katar in dem Konflikt spielen. Ein Rätsel bleibt, wieso ausgerechnet mithilfe Letzterer die Demokratie im Nahen Osten durchsetzbar erschien. Es drängt sich die beängstigende Frage auf, wer wen hier eigentlich instrumentalisiert hat.
Grausamkeiten, die Syrer oder Iraker im eigenen Land nicht begehen wollen.
Info
Die neuen Djihadisten. ISIS, Europa und die nächste Welle des Terrorismus Peter Neumann ECON 2015, 225 S., 16,99 €
Über die Bilder der Beilage
invisible photographer asia wählte ihn unter die 30 einflussreichsten Fotografen Asiens: Erik Prasetya. Geboren 1958 in Padang, einer Hafenstadt in der indonesischen Provinz West- Sumatra, arbeitet Prasetya nach einem Technikstudium zuerst in der Ölbranche, dann als Reporter. Er stellt fest, das Schreiben ist nicht seine Stärke – dafür die Fotografie! Seit über 20 Jahren dokumentiert er nun schon das Stadtleben der Hauptstadt Jakarta. Die meisten Fotografen zelebrierten eine Mittelklasse-Ästhetik zwischen Voyeurismus, Romantik, sogar Exotik, schreibt Prasetya einmal. Eine Ästhetik, die man überwinden müsse, um die „Wahrheit“ zu finden. Das Bildessay JAKARTA: estetika banal versammelt Aufnahmen in schwarz-weiß von 1990 bis 2010. Jakarta sei seit den Reformen eine andere Stadt, sagt Prasetya in einem Interview, der Verkehr sei natürlich immer noch schrecklich.
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