Es kracht im Gebälk des "Mörderregimes"

Aufstand in Algerien Präsident Bouteflika scheint mit seinem politischen Latein am Ende - er sieht sich einer modernen, entschlossenen, nicht länger islamistischen Massenbewegung gegenüber

Auf etwa eine Million Menschen wird die Zahl derer geschätzt, die vor Wochenfrist nach Algier kamen, um gegen das "Mörderregime" zu protestieren - zwischen 50 und 100 Tote kostete der Aufstand bereits. Die Demonstranten kamen vorwiegend, aber nicht nur aus der Kabylei. Erstmals seit der Unabhängigkeit ist es gelungen, im ganzen Land eine Solidaritätsbewegung hervorzubringen. Die Kabylen konnten deutlich machen, nicht nur für die - den Arabophonen eher suspekte - Offizialisierung der Tamasight-Sprache zu kämpfen, sondern Demokratie und mehr Wohlstand für alle durchsetzen zu wollen.

Außer in Frankreich, wo auch Solidaritätsdemonstrationen stattfinden, interessieren sich die internationalen Medien kaum für die akuten Konflikte in Algerien. Dabei ist der von der Kabylei ausgehende Aufstand für Demokratie weitaus entschiedener als alle Demonstrationen für Demokratie, die in Serbien stattgefunden haben. Weil offenbar die Ablösung dessen, was die Demonstrierenden "das Mörderregime" nennen, von den Regisseuren der Weltenbühne im Moment nicht vorgesehen ist, gedenkt auch die Regierung in Algier die Krise auszusitzen. So begibt sich selten ein Minister an die Orte der Demonstrationen, um einen Dialog zu versuchen. Präsident Bouteflika hat zwar Auslandsreisen abgesagt und eine vom Fernsehen ausführlich gezeigte Propagandareise in mehrere Sahara-Städte unternommen, in denen zuletzt eine gewisse Entwicklung stattgefunden hat. Dennoch sind die klatschenden Menschen deutlich als bestellte Claqueure zu erkennen. Der Staatschef - mehr denn je eine Marionette der Militärs - ist mit seinem, nur kurze Zeit erfolgreichen politischen Latein am Ende. Dass er zustimmte, Chérif Messadia, den alten Chef der Ex-Staatspartei FLN (Front de Libération Nationale), der bei den Unruhen von 1988 aus dem Amt gejagt worden war, zum Präsidenten des Senats zu berufen (als der er täglich im Fernsehen erscheint), brachte das Fass zum Überlaufen. Diese Provokation wollte die algerische Gesellschaft nicht hinnehmen, hat sie doch gerade in der furchtbaren Auseinandersetzung mit den Islamisten an demokratischer Statur und zivilgesellschaftlichem Bewusstsein gewonnen.

Völlig indiskutabel ist auch die von Bouteflika kürzlich verfügte Einschränkung der Pressefreiheit. Allerdings lassen sich die Medien nicht einschüchtern. Wortführer ihres Protests ist Ali Djerri, Chefredakteur von El Khabr, der größten arabophonen Zeitung, deren Auflage seit einiger Zeit die der wichtigsten frankophonen Blätter übersteigt. Die Journalisten sind es gewohnt, Gerichtsverfahren angehängt zu bekommen. Noch heute können sie verurteilt werden, wenn sie angeblich irgendwann einmal "Sicherheitsvorschriften" im Kampf gegen Islamisten verletzt haben, die der Staat längst amnestiert hat.

Islamisten als Stütze der Macht

Überall, wo der Aufstand Fuß fasst, besonders aber in der Kabylei, ist nicht nur die Macht machtlos, den Gang der Dinge zu beeinflussen. Wie schon während des Schulstreiks 1994 (damals für die Offizialisierung des Tamasight) ist auch den Parteien der Kabylen das Ruder aus der Hand geglitten. Die wirklichen Koordinatoren der Rebellion sind gewählte Organe der Kommunen, sogenannte "Dorfkomitees". Der FFS (Front de Forces Socialistes), die stärkste Partei der Kabylen, die am 31. Mai einen großen friedlichen Marsch in Algier organisiert hatte, wollte die koordinierende Rolle der "Dorfkomitees" für die Massendemonstration vom vergangenen Donnerstag nicht anerkennen und entschloss sich erst spät zur Teilnahme. Der RCD (Rassemblement pour la Culture et la Démocratie) will mit den Komitees kooperieren, muss sich aber anstrengen, verlorenes Prestige zurückzugewinnen. Zwar wurde RCD-Präsident Said Saadi bei einem der in Algier jetzt täglich stattfindenden Proteste verwundet, aber es war höchst kontraproduktiv, das prominenteste Mitglied des RCD auszuschließen: die international bekannte Feministin Khalida Messaoudi. Sie hatte sich öffentlich bei der Jugend dafür entschuldigt, dass die Partei zu lange in der Regierung des "Mörderregimes" geblieben sei.

Beim Marsch des FFS am 31. Mai war es auf der Höhe der Kasbah, dem ältesten Quartier von Algier, zu einer anti-kabylischen Attacke von Jugendlichen gekommen, die sich als Anhänger einer Fußballmannschaft ausgaben. Als Journalisten nachhakten, konnte der Präsident des Vereins den Verdacht abweisen, Organisator dieser Schlägerei gewesen zu sein. Offensichtlich waren Agenten der Staatssicherheit am Werk. Zu ähnlichen Zwischenfällen - vor allem Zerstörungen und Plünderungen - kam es auch bei der großen Manifestation am 14. Juni, wobei im Stadtteil Bab El Oued begnadigte Emire der islamistischen Guerilla als anti-berberische Agitatoren auftreten konnten, ohne von der Polizei behelligt zu werden.

Nach genau dem gleichen Muster sind die kabylischen Aufstände von 1963 und von 1980 bei der arabophonen Mehrheit in Misskredit gebracht worden. Insofern ist es von enormem Wert, dass sich immer mehr Algerier nicht länger suggerieren lassen, die Kabylen wollten aus dem Staatsverband ausscheren oder alle zwingen, Tamasight zu lernen. Noch bemerkenswerter allerdings ist der Umstand, dass die Islamisten diesmal nicht als Opposition auftreten, sondern als Unterstützer der Staatsmacht.

Algerien scheint in einer zirkulären Bewegung zu den Konstellationen der achtziger Jahre zurückgekehrt zu sein, als das Einparteiensystem der FLN versuchte, den Islamismus zu integrieren. Genau für diese Politik stand Chérif Messaadia. Aber diese zirkuläre Bewegung betrifft tatsächlich nur die Konstellation im Innern des Regimes. Das Volk, das in den achtziger Jahren vom Islamismus verführt werden konnte, hat sich heute von ihm befreit. Wer die nun unablässig demonstrierenden Jugendlichen sieht, erkennt nirgendwo mehr islamistische Parolen, sondern eine mächtige, moderne Massenbewegung. Sie kann vielleicht sogar Anregung für "entwickeltere" Länder sein, die das Phänomen versteinerter Verhältnisse ebenfalls kennen. Es waren eindeutig Dorfkomitees, die den ursprünglich nicht zugelassenen Marsch auf Algier durchgesetzt haben und denen buchstäblich in letzter Minute die Weisung des Präsidenten zugeleitet wurde, es würden nur unbewaffnete Ordnungskräfte eingesetzt. Dennoch waren Chaos und Anarchie unvermeidlich. Als die Busse einer privaten Firma umgekippt wurden, kamen die mit den Demonstranten sympathisierenden Journalisten Adel Zerrak und Fadila Nedjma ums Leben - es gab insgesamt zehn Tote.

Erdölgelder für die Kabylei

Um den Aufstand einzudämmen, wird von ausländischen Medien vorgeschlagen, sollte der algerische Staat doch endlich die höheren Erdölrenditen einsetzen, um Forderungen der Aufständischen nach Entwicklungsperspektiven nachzukommen. Dabei wird vergessen oder verschwiegen, dass Algerien unter einem kategorischen Privatisierungsdiktat von Weltbank und IWF steht. Das Land verfügt gar nicht über die Souveränität, plötzlich wieder einen "staatlichen Sektor" zu erweitern und zu mehr Subventionen überzugehen, obwohl gerade solcherart Maßnahmen die Kabylei befrieden könnten. Selbst wenn das "Mörderregime" verschwände, müsste daher sofort auch die internationale Verantwortung für die Dauerkrise Algeriens auf die Tagesordnung gesetzt werden.

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