Im "Dreieck des Todes"

Algerien Ganz normale Angst: Widersprüchliche Eindrücke von einer Rückkehr nach Algerien

Unbeschreiblich sind die Neurosen einer in Deutschland lebenden Familie, die ihre erste oder zweite Heimat Algerien besuchen will, nachdem sie das wegen des islamistischen Terrors mehrere Jahre nicht gewagt hat. Die ältere Tochter wird erstmals an die Orte ihrer Kindheit zurückkehren, die jüngere hat Algerien im Alter von zehn Tagen verlassen. Kurz vor der Reise - während des Fastenmonats Ramadan - waren von der islamistischen Guerrilla, die sich im Rahmen des staatlichen Gnadengesetzes bis Januar 2000 nicht ergeben hatte, über 200 Menschen ermordet worden, darunter sieben Internatsschüler in der bei Algier liegenden Stadt Medea, die im Schlaf überrascht wurden. "In unserem Land kamen mehr Menschen um als im gleichen Zeitraum Palästinenser im Widerstand gegen Israel", klagte die Zeitung Liberté, "aber an unser Leid hat sich die Welt gewöhnt, leider auch unsere Regierung."

Nacht hinter der Stahltür

Als die Reise näher rückt, stellen sich bei der Familie Nervositäten, Animositäten und sogar längst geheilt geglaubte Krankheiten ein: Hat die Reise Sinn, wenn man so viel Angst haben muss?

Drei Tage vor dem Termin fällt die Entscheidung, doch zu fliegen. Wir machen uns klar, dass wir doch nur kurze Zeit die ganz normale Angst erleben werden, der die Algerier ständig ausgeliefert sind.

Als wir dann aber vor der Wohnung stehen, in der wir in den achtziger Jahren gelebt haben, packt mich wieder Beklemmung. Vor die eigentliche Tür ist eine Stahltür gebaut worden, nachdem vor fünf Jahren Nichte M. am helllichten Tage von einem Einbrecher erschreckt wurde, der sich an den damals schon zahlreichen Schlössern zu schaffen machte. Weil das Telefon abgestellt war, hatte sie vom Balkon um Hilfe gerufen, die schließlich rechtzeitig eintraf. Ob der Einbrecher aus islamistischen Motiven gehandelt hatte, blieb ungewiss. Da die männlichen Familienmitglieder per Telefon schon etliche Warnungen erhalten hatten, diese Wohnung nicht mehr zu betreten, schien die Stahltür das einzige Mittel, sie wenigstens für Frauen bewohnbar zu halten.

Als ich 1993 in Algier war, erschien es auch für mich als Ausländerin zu gefährlich, hier zu wohnen. Nun sah ich mit Schrecken, dass die Schwägerin, die unsere Wohnung mit bewohnt, ein Kopftuch trägt, wenn sie auf die Straße geht. Sie ist 62 Jahre alt und hatte den Schleier in ihrem 24. Lebensjahr abgelegt. Nichte M. hat inzwischen ihr Übersetzerstudium beendet und ist seit anderthalb Jahren auf Arbeitssuche. Zierlich wie die sprichwörtliche Gazelle und geschminkt wie zu einem Schönheitswettbewerb, erzählt sie uns ihr zweites Abenteuer mit der Gewalt, das kurz nach dem ersten Vorfall stattfand. Unweit vom Haus hielt ein Auto neben ihr. Ein Mann sei ausgestiegen, habe sich als "Emir" vorgestellt und sie aufgefordert, einzusteigen. Sie kann sich selbst nicht erklären, weshalb sie ihm gesagt hat: "Ich weiß nicht, wie spät es ist!" Das habe den "Emir" so irritiert, dass M. eine Treppe erreichen konnte, die wenige Meter weiter zur Rue de Moulhouse hinabführt, einer Straße mit armer Bevölkerung und ein wichtiger Ort für Demonstrationen der Islamisten. - Seitdem ist M. in psychiatrischer Behandlung.

In der ersten Nacht hinter der Stahltür frage ich mich, werden die Islamisten anklopfen und sich den in den achtziger Jahren fernsehbekannten Moderator und Märchenerzähler, Saddek El Kebir, vornehmen, dessen volkstümliche und gleichzeitig antiautoritäre Sprache sie so gestört hatte, dass sie schon damals das Verbot seiner Sendungen durchsetzten? Oder die Ausländerin? Ich schlafe ein, nachdem ich mir eingeredet habe, dass die Islamisten heute nicht mehr die Struktur haben, um gezielt Intellektuelle und Ausländer umzubringen. Da sie ihre politischen Ansprüche aufgeben mussten, sind sie zu Straßenräubern geworden. Wirklich in Gefahr werden wir erst bei unseren Fahrten über Land sein.

Getürkte Polizeisperren

Mein Gesamteindruck von Algier ist positiver als ich gedacht habe. Entgegen meiner Erwartung sitzen nicht mehr Bettler herum als früher. Alles ist viel sauberer. Seit dem letzten Herbst gibt es genug Stauanlagen in der Nähe der Hauptstadt, um die Wasserversorgung sicherzustellen. Dass in unserer Wohnung aus den Hähnen praktisch immer Wasser läuft, ist für mich völlig ungewohnt. Auch sind die Menschen erstaunlich gut gekleidet. Bei meinen Abstechern in die höher gelegenen, ärmeren Viertel kann ich das große Elend, von dem die unabhängige Presse so eindrucksvoll schreibt, nicht entdecken. Es muss also versteckbar sein.

Erschütternd wirken allerdings die geschlossenen und verwahrlosten einstigen Kaufhäuser. Der Staat hat sie aufgegeben. Eine in Italien lebende Algerierin will Les Galeries privat betreiben, doch bekommt sie den Zuschlag nicht, weil "mit den Generälen verwandte" Familien die Gebäude für einen symbolischen Dinar vom Staat kaufen wollen. Bis die Gerichte entscheiden, bleibt alles verrammelt.

Meine Angst ist verflogen, da ich den Eindruck habe, dass mir die Leute mit mehr Freundlichkeit begegnen als früher. Werde ich auf den engen Märkten angerempelt, entschuldigt man sich. Für Kinder bin ich sogar eine Attraktion. Schwager O. macht mich darauf aufmerksam, dass sein vierzehnjähriger Sohn Europäer nur aus dem Fernsehen kennt. Ausgerechnet in El Atteuf, einem der traditionellsten, die Fremden argwöhnisch überwachenden Orte der algerischen Sahara wird sich ein dreijähriges Kind aus den Armen seiner Mutter losreißen, um dieses außerirdische Wesen, das ich zu sein scheine, näher in Augenschein zu nehmen. Die den im Tal des Mzab üblichen Wollschleier tragende Mutter lacht mich freundlich an. Noch vor 15 Jahren durfte eine Frau hier nicht mit fremden Frauen kommunizieren. Der Ausländerhass, den die Islamisten in den achtziger Jahren fast in die gesamte Gesellschaft getragen hatten, scheint verschwunden. Vielleicht spielen die vielen Parabolantennen eine Rolle dabei, die nicht nur auf allen Häusern, sondern massenhaft sogar in Wellblechsiedlungen angebracht sind.

Ich finde auch, dass es meiner Familie besser geht als deren Zweig in Frankreich. Das will sie selbst allerdings nicht wahrhaben, da ihr das Frankreich der Parabolantennen vor Augen schwebt. Zwar bewohnt keiner eine der vielen neuen, protzigen Villen, die sich FIS-Leute (*) und andere Neureiche in Hydra errichtet haben. Aber mittlerweile leben meine Verwandten in ausreichend großen Neubauwohnungen, deren Mietpreis an DDR-Verhältnisse erinnert. Sie sind auch solider möbliert, als es bei IKEA möglich wäre. Die augenscheinliche Besserung der Lage brachte nicht nur Fortschritte für den Mittelstand, sondern auch politische Entspannung. Denn auch "Emire" haben durch die Concorde Civile die Möglichkeit, Unternehmer zu werden.


    Bouteflikas "Concorde Civil"

    Mit 98,6 Prozent Ja-Stimmen bei einer bisher in der Geschichte des Landes noch nie registrierten Rekord-Wahlbeteiligung von 85 Prozent hatten die Algerier bei einem Referendum am 16. September 1999 dem Vorhaben des Präsidenten, eine Amnestie für fundamentalistische Terroristen zu erlassen, zugestimmt. Man sprach von einer "Remodellierung" der innenpolitischen Landschaft. Doch Bouteflikas "Programm der nationalen Versöhnung" erwies sich zusehends als "Gnade von oben", bei der Terroristen, die gestern noch durch die Berge marodierten, über Nacht zu unbescholtenen Bürgern wurden. Offiziell sollten alle Angehörigen islamistischer "Kampfgruppen", die innerhalb von sechs Monaten die Waffen niederlegten und in ein normales bürgerliche Leben zurückkehrten, straffrei bleiben, sofern sie nicht nachweislich an direkten Bluttaten beteiligt waren. Außerdem wurde der Präsident ermächtigt, wegen ihrer Verbrechen verurteilte oder angeklagte Terroristen zu amnestieren. Doch der erhoffte "zivile Frieden" trat nicht ein. Islamistische Kommandos wie die Groupe Islamique Armé und andere setzen ihre Anschläge bis heute fast unvermindert fort.

Aber dass wir mit dem Auto von Schwager S. in die Sahara fahren wollen, finden fast alle Verwandten zu gefährlich. Es gäbe noch zu viele Banditen, die falsche Polizeisperren errichteten und ihre Opfer in Sekundenschnelle abschlachteten, um an ihr Geld zu kommen. Mit derartigen Sperren müsse man jedoch in der Regel nicht auf den Nationalstraßen rechnen und könne sie bei einiger Aufmerksamkeit von Kontrollposten der Armee unterscheiden. Die Banditen sperrten immer nur eine Straßenseite ab. Falls wir also ein paar Minuten keinen Gegenverkehr hätten, sollten wir einfach umkehren, im nächsten Ort einen Kaffee trinken und warten, bis der Verkehr wieder in Gang käme. Außerdem dürfe man nur bei Tage fahren.

Mit diesen Regeln kommen wir tatsächlich gut durchs Land. Einmal, zwischen Biskra und El Oued fahren wir tatsächlich ein Stück zurück, weil es plötzlich keinen Gegenverkehr mehr gibt. Schreckliche Angst packt uns auf der Rücktour nach Algier auf dem Weg durch die südlich der Stadt liegende Bergregion, die zum "Dreieck des Todes" gehört. Allerdings ist der Verkehr sehr dicht, denn um für die Arbeit mobil zu sein, müssen die Menschen ihre Autos benutzen. Zugleich aber weiß man, dass hier noch die Leute des Emirs Zouabri operieren. Damit sie vom Straßenraub lassen, hat man ihnen wahrscheinlich noch nicht genug Land oder Geld angeboten. Nirgends gibt es denn auch mehr Militärposten - ausnahmslos mit gepanzerten Fahrzeugen ausgerüstet - als im "Dreieck des Todes", zu dem auch die unglückliche Stadt Medea gehört.

Bouteflika wohnt im Fernsehen

Wieder in Algier besuche ich befreundete Journalisten im militärisch bewachten Haus der Presse, das vielen unabhängigen Zeitungen Zuflucht bietet. A. B. hat seine Tageszeitung Le siècle vor kurzem in ein kulturelles Wochenmagazin mit prononciert antiislamistischen Texten umgewandelt und ein Interview mit Teissier, dem Erzbischof von Algier, (im vergangenen Jahrzehnt wurden auch Nonnen und Mönche ermordet) gedruckt. Obwohl das Hochglanzprodukt recht teuer ist, wurden die 5.000 Exemplare der ersten Nummer restlos verkauft. Sie enthielt auch mehrere äußerst kritische Artikel über die Politik des Präsidenten.

"Unser Fernsehen sieht keiner mehr", meint A. B., "seit Bouteflika dort zu wohnen scheint." Die allabendlichen Reden des Präsidenten hatten zunächst die Straßen leergefegt. Das änderte sich, nachdem die Concorde Civile nicht das Ende des Terrorismus brachte und versprochene Reformen kaum oder gar nicht in Angriff genommen wurden. "Das Schlimmste ist," - so A. B. - "dass Bouteflika es mit der Formel ›Präsident aller Algerier‹ sein zu wollen, verdammt ernst nimmt. So hat er mit den Islamisten mehr als nur geflirtet. Die vor dem Referendum zum Concorde Civil (siehe Kasten) versprochene Strafverfolgung von Bluttätern hat nicht stattgefunden - kein einziger steht vor Gericht. Der jetzige Außenminister Benkhadem war FIS-Mitglied, ein Berater Abassi Madanis (FIS-Führer - die Red.)! Und es geht das Gerücht um, dass erwogen wird, Ali Belhadj (ebenfalls ein FIS-Führer - die Red.), der selbst aus dem Gefängnis heraus noch zur Gewalt aufgerufen hat, den Rest seiner Haft zu erlassen. Wenn diese Manöver vielleicht noch politisch notwendig sind, weil das Kräfteverhältnis nichts anderes zulässt, so ist doch vollkommen unakzeptabel, dass der Präsident jetzt auch noch Politiker aus Zeiten der FLN (**) reaktiviert. Den ehemaligen Parteichef Messadia, der 1988 durch die Jugendrevolte aus dem Amt gejagt wurde, will er zum Senator machen. Mit diesem Bestreben, alles und jedes zu integrieren, steht Bouteflika in der Tradition der FLN. Es ist ihm gelungen, sowohl die Parteien als auch das assoziative Leben lahm zu legen." A.B. gehört zu denjenigen, die dem Rückzug des Staates aus Produktion und Verwaltung kaum positive Seiten abgewinnen können. Die neureichen Mittelständler nennt er Bagarin, was soviel wie "Ochsentreiber" heißt. Wenige Tage später wird bekannt, dass Belhadj im Gefängnis bleibt, Messadia aber tatsächlich Senator geworden ist.

Am letzten Tag haben wir unsere Nichte M. eingeladen, mit uns zur Madrag zu fahren, wo es schon seit der Franzosenzeit herrliche Fischrestaurants gibt. In Bab El Oued kommen wir an der Moschee vorbei, in der gerade das Freitagsgebet beendet wird. Autos müssen warten, weil die zumeist jugendlichen Gläubigen - nicht wenige mit Bart und dem islamischen Hemd - die Straße füllen. Obwohl unser Fenster geöffnet ist, schreit Nichte M. hysterisch ihre Angst heraus: "Schaut, da sind sie wieder! Wie früher! Die fangen wieder an, sich zu organisieren, schaut nur!" Ich packe das provokant geschminkte Mädchen am Kragen und beschwöre es, leise zu sprechen. Oder wenigstens das Fenster hochzudrehen.

Die Madrag selbst ist nicht wiederzuerkennen. In den achtziger Jahren gab es hier nur wenige Restaurants, die niemals voll waren. Jetzt gibt es viele neue, der Fisch ist zehnmal teurer als früher und es kommen zehnmal mehr Leute, die Fisch essen. Wir müssen eine Stunde warten, ehe wir Platz bekommen. Staunend beäuge ich das Publikum. Die Bagarin ähneln in nichts den Islamisten. Es sind ganz normale Kleinbürger, die natürlich Weltbürger sein möchten. Selbstverständlich trinken sie Wein.


    Auf dem Rückflug nach Berlin lese ich in den Zeitungen, dass bei Annaba vier Russen von einer falschen Straßensperre angehalten und ermordet wurden. Des weiteren habe die Debatte um die Schulreform begonnen. Der Präsident schlage vor, dass Französisch wieder ab zweitem - nicht wie in den vergangenen 20 Jahren ab viertem - Schuljahr gelehrt werden soll. Da die meisten Arbeitsplätze im Land Französischkenntnisse voraussetzen, wäre im globalisierten Zeitalter damit etwas mehr Chancengleichheit für die arabophonen Schichten hergestellt.

(*) Front Islamique du Salut, seit 1992 verbotene Partei der islamistischen Kräfte.

(**) Front de la Libération National - Unabhängigkeitsbewegung gegen Frankreich, bis 1992 faktisch Staatspartei.

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