„Langsam aber sicher“ habe sich „die dritte algerische Revolution“ in Bewegung gesetzt, schreibt ein Leser an die Zeitung El Watan, die wie andere Medien des Landes begeistert über die Regimewechsel in Tunesien und Ägypten berichtet. Zu den ersten davon inspirierten Märschen in Algier kamen freilich nur einige tausend Demonstranten, zuletzt am 19. Februar 5.000. Schon morgens kreisten Hubschrauber über Algier. Ein grotesk aufgeblähtes Polizeiaufgebot – zehnmal stärker als die teils aus der nahen Kabylei, teils aus der Stadt selbst herbeiströmenden Demonstranten – besetzte den historischen Platz des 1. Mai vorbeugend selbst. Derart unter Druck gesetzt und von rabiaten Gegendemonstranten traktiert, mussten sich die Protestler zurückziehen.
Rechtliche Grundlage dieser Malaise ist der in Algerien seit 19 Jahren verhängte Ausnahmezustand. Der galt zwar auch in Tunesien und Ägypten, hatte aber die Menschen dort kaum behindert, ihren Aufstand zu einem ansehnlichen Erfolg zu führen. Während es der tunesische und ägyptische Repressionsapparat aber stets mit vorwiegend gewaltfreien Oppositionsbewegungen zu tun hatte, sah sich das algerische Pendant lange einer islamistischen Guerilla gegenüber, die bis Ende der neunziger Jahre eine relativ breite Unterstützung in der Bevölkerung fand.
Blutiges Jahrzehnt
Im Oktober 1988 hatte es nach dem Unabhängigkeitskrieg eine „zweite algerische Revolution“ gegeben, die ein gutes Jahr vor dem Zusammenbruch des Ostblocks zu einer wirklichen Demokratisierung, zu Assoziations- und Meinungsfreiheit führte. Algerien war das erste islamische Land, in dem Druckerzeugnisse vor Erscheinen nicht mehr vom Innenministerium genehmigt werden mussten. Die Assoziationsfreiheit führte freilich dazu, dass sich eine Partei etablieren konnte, die der vom Volk gebilligten neuen Verfassung nicht genügte, da sie die Religion programmatisch instrumentalisierte: die Islamische Heilsfront (FIS) erklärte ungerührt, Demokratie als westlichen Kulturimport abschaffen zu wollen, sobald sie Wahlen gewinnen sollte. Als genau dies 1991 geschah, annullierte die Armee das Votum, worauf das Land in ein blutiges Jahrzehnt stürzte.
Dass die algerischen „Ordnungskräfte“ – anders als ihre tunesischen und ägyptischen Kollegen – auf die Besetzung großer öffentlicher Plätze vorbereitet sind, ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass 1990 Tausende von Heilsfront-Aktivisten eben diese Plätze wochenlang besetzt hielten, um einen Machtwechsel ohne Wahl zu erzwingen.
Bouteflika schweigt
2011 steht die Repressionsmaschinerie einer Demokratiebewegung gegenüber, die größer ist als die Zahl der Demonstranten derzeit vermuten lässt. Diese Bewegung will nicht länger im Ausnahmezustand leben und Parteien hinnehmen, von denen sich keine mehr rühmen kann, die 1988 erkämpfte demokratische Kultur zu repräsentieren. Selbst verfassungstreue Islamisten und Trotzkisten erscheinen heute als Stützen des Regimes von Präsident Bouteflika. Bislang hat allein das vorwiegend in der Kabylei verwurzelte Rassemblement pour la Culture et la Démocratie (RCD) zum öffentlichen Protest aufgerufen.
Die an vielen Orten Algeriens teils vollzogenen, teils von der Polizei verhinderten Selbstverbrennungen zeigen, dass die soziale Lage vieler Menschen nicht weniger verzweifelt ist als anderswo im arabischen Raum. Das Regime Bouteflika schachert nicht nur seinem Militär- und Polizeiapparat die Früchte der Erdölrendite zu. Davon zehren auch die Anführer des islamistischen Aufstands von 1992, gegen die nie Gerichtsverfahren eröffnet wurden. Noch 1999, als der „Bürgerfrieden“ ausgehandelt war, hatte Bouteflika versprochen – die Täter würden ihren Richter finden. Doch funktionierte die seinerzeit besiegelte Koexistenz nur, weil der Staat nicht allein den kleinen islamistischen Kämpfer ziehen ließ, sondern den großen Führern eine Kompensation bot – die Staatsfeinde von gestern durften teilweise in das ganz große Handelsgeschäft einsteigen. So gehören die größten Unternehmen einer liberalisierten Wirtschaft heute ebenso den Clans der Militärs wie der Islamisten. Damit haben sich einst unversöhnliche „Gegner“ in einem Kompromiss eingerichtet, der für alle anderen sozialen Fortschritt blockiert.
Seit der ausgebliebenen juristischen Sühne für die Islamisten beherrschen die das Bildungswesen von der Grundschule bis zur Universität. Während andere arabische Länder partiell westliche Lehrpläne für ihre Universitäten übernommen haben, aus denen fachlich kompetente und demokratiesensible Mittelschichten hervorgehen, verfallen Algeriens akademische Standards. Die Universität von Algier rangiert in afrikanischen Rankings weit hinten. Dabei trifft der Bildungsnotstand ebenso untere und mittlere Qualifikationen bis hin zu Handwerkern, für die es kaum Ausbildungsstätten gibt. Wer in Algier einen Elektriker oder Klempner braucht, gerät in eine paradoxe Notlage.
Dass die eigenen Landsleute durch diese Misere Arbeits- und Lebenschancen verlieren, interessiert weder die herrschende Clique noch die Islamisten. Beiden kommt es gelegen, dass mangelnde Bildung die Menschen immer noch eher in die Religion als in die Politisierung treibt. Um dem entgegenzuwirken, will eine Coordination Nationale pour le Changement et la Démocratie (CNCD) Brücken bauchen – sie sollen spontane Assoziationen des Jugendprotests mit dem Verein der Arbeitslosen und den Gewerkschaften verbinden. Sollte es dafür ein Programm geben, müsste das mehr wollen als das in Tunesien und Ägypten Erreichte. Die Erfolgschancen für einen Wandel stehen insofern nicht schlecht, als Abd al-Aziz Bouteflika so krank ist, dass er sich nicht mehr täglich im Fernsehen produzieren kann. Aus dem Präsidentenpalast kommt derzeit nur Schweigen. Und das Gerücht, Bouteflika wolle seinem Bruder die Macht übertragen, dürfte überholt sein.
Sabine Kebir ist Essayistin, Literaturwissenschaftlerin und Algerien-Spezialistin
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