Weder Kosten noch Opfer gescheut

Arabien Ohne den Fernsehsender „Al Djasira“ wären die vom Umbruch erfassten Gesellschaften von Tunesien bis Bahrain kaum aus ihrer fatalistischen Lethargie erwacht

Welchen Einfluss wird der Westen noch in den arabischen Ländern geltend machen können, wenn aus den so überraschend ausgebrochenen Revolutionen neue institutionelle Formen hervorgehen? Welche Art von Demokratie wird das sein? Ist der Islam überhaupt zur Demokratie fähig? Zur Säkularisierung? Und was wird aus Israel? Diese immer wieder gestellten Fragen sind natürlich zu pauschal und schon deshalb nicht beantwortbar, weil sie sich für jedes Land anders stellen. Noch befinden sich die arabischen Revolutionen in einer Phase, die später einmal die „epische“ genannt werden könnte. Es gibt davon unzählige, von Fernsehbildern gestützte Erzählungen über den Todesmut des Einzelnen wie die Kraft der großen Masse, die in der modernen Welt nicht mehr zu existieren schien.

Machtlos gegen Satellitenschüsseln

Es sind keine westlichen Medien, die diese beeindruckenden Bilder produzieren und verbreiten – es ist allein der Kanal Al Djasira, der weder Kosten noch Opfer scheut und mit Kamerateams wie Reportern sofort an Brennpunkten präsent ist, um von dort ununterbrochen live zu senden. Auch in den umkämpften Städten Libyens wird durch journalistische Präsenz eindrucksvoll deren Befreiung bezeugt: Denn in allen nordafrikanischen Ländern durfte Al Djasira bislang weder Studios betreiben noch mobile Kamerateams arbeiten lassen. Doch konnte keines der autoritären Regimes verhindern, dass sich die Bürger über Satellitenschüsseln den Sender ins Wohnzimmer holten.

Auf diese Weise fand seit Jahren ein kulturelles Vorspiel statt, das den jetzigen Umbrüchen eine Grundrichtung und kommunikative Basis gab. Während Facebook und Twitter nur als Kommunikationsmittel eine Rolle spielten, hat Al Djasira eine politische Perspektive gegeben. Der Sender brach seit seinem Bestehen 1996 mit der in islamischen Ländern herrschenden Unsitte, reale Widersprüche, die in konträren Meinungen kondensieren, außen vor zu lassen, wodurch unter Aufsicht des jeweiligen Innenministeriums ein künstlich harmonisiertes Bild der Gesellschaft vorgeführt wurde. Al Djasira organisierte tagtäglich supranationale Foren, bei denen sich Reformer, Feministinnen und Linke, die in ihren Ländern verfolgt waren, mit beinharten Islamisten und Konservativen die spektakulärsten Wortgefechte lieferten. Damit übertrumpfte man mühelos die nationalen Sender wie die westliche Konkurrenz.

Auf Augenhöhe

Die Al-Djasira-Redaktionen selbst präsentierten sich stets modern und demokratisch, was schon durch den großen Anteil von hochqualifizierten, zumeist auch noch bildschönen Frauen zum Ausdruck kam, die – bis auf eine aus Algerien stammende Nachrichtenredakteurin – ohne Kopfbedeckung auftraten. Bei all dem verzichtete die Redaktion nie auf parteiliche Haltungen, wie sich das am deutlichsten in der Sympathie für die Palästinenser zeigte. Während des Gaza-Krieges 2008/2009 waren Kamerateams von Al Djasira buchstäblich im Bombenhagel und in den Lazaretten dabei. Der Sender bezog, um Kriegsverbrechen nachzuweisen, eine große Zahl westlicher Spezialisten und Menschenrechtsaktivisten ein. Durch diese säkular geprägte, supranationale Medienarbeit hat der Kanal einen kulturellen Umbruch im arabischen und islamischen Raum überhaupt ausgelöst, der autoritären Nationalismus ebenso wie fanatischen Islamismus delegitimierte.

Sollten die arabischen Revolutionen demnächst tatsächlich institutionalisiert werden, dürfte der Sender diesen Prozess begleiten, ohne einzugreifen. Zu viel hängt von den noch auszufechtenden inneren Konflikten der einzelnen Länder ab. Dass der Islam auch weiterhin eine Rolle spielt, dürfte weder Amerikaner noch Europäer verwundern, definieren sie sich doch selbst über die christlichen, neuerdings auch die christlich-jüdischen Werte. Deren Gebote lassen sich in der Regel unter dem Anspruch Gerechtigkeit zusammenfassen und können deshalb auch von jedem Atheisten anerkannt werden. In der islamischen Welt ist Gerechtigkeit mit islamischer Tradition verbunden und wird es bleiben. Andererseits sind säkulare Lebenshaltungen für erhebliche Teile der islamischen Community längst Realität. Wie weit sie auf die jeweiligen Gesamtgesellschaften ausgedehnt werden, dürfte davon abhängen, ob es gelingt, allgemeiner Wohlfahrt zu genügen, Sozialversicherungssysteme einzuführen und den Staat für die Pflege eines Bildungswesens in die Pflicht zu nehmen, das diesen Namen verdienen. Solange aber ein Großteil der Bürger von Almosen aus der Moschee oder von Familiensolidarität leben muss, die erfahrungsgemäß autoritär ausfällt, werden islamistische Parteien ihre Wählerschaft finden.

Und was wird aus Israel, das sich künftig nicht mehr als einziges demokratisches Land in Nahost darstellen kann, von dem die anderen zu lernen haben? Die Chance ist vertan, als multiethnisches und multikulturelles Staatswesen ein Vorbild zu sein, das sich arabischen Gesellschaften zur Nachahmung empfiehlt. Israel hat seine Umgebung durch Gewalt in Schach gehalten und wird nun schnell lernen müssen, mit den Nachbarn auf Augenhöhe zu verkehren.

Sabine Kebir ist Eassayistin und Literaturwissenschaftlerin

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